Abgeschriebenes Interview Filippo Focardi
Ist der „gute Italiener“ eine Legende? Hat ein italienisches Nürnberg gefehlt?
Fast ein Ausflug ins Grüne. Die Invasionskriege des faschistischen Italiens in Afrika, wo wir „die Straßen gebracht“ hätten, wie viele Nostalgiker sagen, oder die Kriege im ehemaligen Jugoslawien oder in Griechenland, um nur einige zu nennen: für viele wären sehr wenig im Vergleich mit den Raubzügen der Nazi gewesen. Aber ist das wirklich so? „Der gute Italiener und der böse Deutsche“: stimmt es oder ist es eine Legende? Hat es in Italien Kriegsverbrecher gegeben? Und wie sehr hat das Fehlen eines italienischen Nürnbergs die Kenntnisse über die Verbrechen des Faschismus beeinflusst? Darüber haben wir mit Filippo Focardi gesprochen, Professor an der Universität Padua und Autor zahlreicher Bücher und Forschungen zu diesem Thema.
BERTOLUCCI FRAGE: Gab es wirklich den bösen Deutschen und den guten Italiener oder haben wir unsere Schuld während des Zweiten Weltkriegs anderen abgeschoben?
FOCARDI ANTWORT: Es besteht kein Zweifel, dass die deutschen Streitkräfte, sowohl die regulären, die Wehrmacht als auch die SS, grausame Verbrechen begangen haben, sowohl im Achsenkrieg 1939 bis 1943 als auch während der Besatzung Italiens. Es genügt, sich an die großen Massaker an Zivilisten wie Sant’Anna di Stazzema oder Monte Sole zu erinnern. Es wurden auch Frauen und Kinder abgeschlachtet. Das hat sich also offensichtlich in einer noch massiveren Form in Osteuropa abgespielt, in Mittel- und Osteuropa, denken Sie an Polen, denken Sie an den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und offensichtlich an die Shoah. Es besteht also kein Zweifel daran, dass auf den Schultern Deutschlands, der Deutschen, dieser sehr schwere Makel lastet, enorme Kriegsverbrechen begangen zu haben. Dieses Bild vom bösen Deutschen, das einen sehr, sehr auffälligen Kern der Wahrheit hat, ist aber von Italien, von der zuerst monarchischen herrschenden Klasse, vom Badoglio, dann auch von der antifaschistischen herrschenden Klasse, von allen, von den Liberalen bis zu den Kommunisten, benutzt worden, um ein gutmütiges, sich selbst frei sprechendes Bild der Italiener aufzubauen, im Gegenpart zu Deutschland und zu den Deutschen. Aber in den Jahren des Achsenkrieges, den das faschistische Italien an der Seite Hitlerdeutschlands führte, wurden von 1940 bis 1943 auch von italienischer Seite schwere Kriegsverbrechen begangen, vor allem auf dem Balkan. In den besetzten Gebieten Jugoslawiens und Griechenlands, teilweise auch in der Sowjetunion, haben Kriegsverbrechen auf italienischer Seite die von Deutschland erreichten Gipfel der Monstrosität nicht erreicht. Akte der ethnischen Säuberung, Massenverbrechen, Völkermord wie die Vernichtung der Juden oder der Sinti-Roma wurden doch von den Deutschen, aber nicht von den Italienern begangen. Italiener haben aber auch schwere Kriegsverbrechen begangene: repressive Aktionen gegen die Partisanenbewegung, die nicht nur die bewaffneten Partisanen, Männer oder Frauen, sondern auch Zivilisten getroffen haben; Razzien, Erschießungen von Geiseln, die Schaffung eines Systems italienischer Konzentrationslager für Jugoslawen, aber auch für Griechen, in denen Zehntausende von Menschen untergebracht wurden. Dieses Gesicht des kriegerischen Italiens, der Verbrechen, die von den Italienern begangen wurden, ist absichtlich verschleiert worden, durch den Vergleich mit dem bösen Deutschen und durch die Betonung der humanitären Verdienste der Italiener. Die Deutschen seien unerbittlich gewesen, von antisemitischem Hass durchdrungen, und sie haben alles getan, was sie getan haben. Im Vergleich zu ihnen hätten wir Italiener uns diametral entgegengesetzt verhalten: Unsere Soldaten wollten angeblich den Krieg Mussolinis nicht, sie wären innerlich keine Faschisten gewesen, sie hätten sich nicht so gefühlt, sie hatten eine humanitär-solidarische Haltung gegenüber der Zivilbevölkerung, angefangen bei den Juden. Angeblich retteten wir die Juden, stattdessen wollten die deutschen Kameraden sie ausrotten. Das erregt Aufmerksamkeit, weil es interessant ist und einen Teil der Wahrheit gibt. In der Tat haben wir in vielen Fällen viele Juden gerettet, aus verschiedenen Gründen, nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch aus politischen Gründen, manchmal sogar gegen Bezahlung. Die neuesten Studien haben hervorgehoben, dass es einen Tarif gab, das heißt, wir haben Juden gerettet, aber in vielen Fällen haben wir sie zur Kasse gebeten. Ferner ist das Ergebnis zweifellos gewesen, dass die Italiener, die italienischen Besatzungstruppen, dieselben Besatzungstruppen, die die slowenischen oder kroatischen Partisanen erschießen, Tausende Juden gerettet haben. In diesem Unterschied zwischen dem Bild des bösen Deutschen und dem des guten Italieners liegt also ein wahrer Kern an Wahrheit. Das hat aber dazu gedient, eine Nebeldecke über die italienischen Verbrechen zu legen. Dabei handelt es sich um eine diplomatische Karte, die ursprünglich vom Apparat des Außenministeriums, der bei Badoglio verblieben war, und auch vom italienischen Militär ausgewählt wurde, um auf die Anschuldigungen der Kriegsverbrechen zu reagieren, die von den besetzten Ländern, Jugoslawien und Griechenland erhoben wurden. Bereits im Herbst 1943 wurde in London eine Kommission der Vereinten Nationen für Kriegsverbrechen eingesetzt, die die Listen der Kriegsverbrecher der Achsenmächte, einschließlich Italiens, erstellen sollte. Man wollte sie nach dem Krieg vor Gericht als Kriegsverbrecher stellen. Dieses Narrativ, wonach die Italiener gute Samariter im Vergleich zu den bösen Deutschen gewesen wären, wurde aufgebaut, um die Italiener zu schützen, die Kriegsverbrechen begangen hatten und der Kriegsverbrechen beschuldigt wurden. Gleichzeitig gab es auch einen Diskurs von nationalem Interesse, man wollte das Land von Mussolinis Krieg freisprechen und in der Zukunft einen straffreien Frieden gegenüber Italien fördern. „Ihr dürft uns also nicht wie Deutschland verurteilen, besiegt worden ist Mussolinis Italien, dieses Italien war als besiegte Feindnation aus dem Krieg hervorgegangen, die sich bedingungslos ergeben musste. Das andere Italien hatte im September 1943 einen Waffenstillstand unterzeichnet. Das Argument war Folgendes: Ihr dürft uns nicht wie die Deutschen und Deutschland verurteilen und behandeln, denn als wir Verbündete Hitlerdeutschlands waren, haben wir uns vollkommen anders verhalten als der deutsche Kameraden. Wir haben die Juden gerettet, die Deutschen haben sie vernichtet. Ja, es ist wahr, es gibt einen Kern an Wahrheit, aber all dies diente dazu, die schweren Kriegsverbrechen Italiens und die Verantwortung des Mussolini-Italiens im Krieg der Achsenmächte zu verschleiern.
BERTOLUCCI FRAGE: So gibt es auch viele italienische Kriegsverbrecher, die unbestraft geblieben sind, glaube ich. Oder?
FOCARDI ANTWORT: Ja, fast alle italienischen Kriegsverbrecher sind ungestraft geblieben. Auf den Listen der Kriegsverbrecherkommission der Vereinten Nationen standen mindestens tausend italienische Zivilisten und Soldaten, die wegen Kriegsverbrechen gegen Zivilisten in den besetzten Gebieten, insbesondere in Jugoslawien und Griechenland, angeklagt waren. Dann gab es noch eine andere Kategorie von Kriegsverbrechern, nämlich die Italiener, die Gewalt und Tötungen an alliierten Kriegsgefangenen verübt hatten. Die einzige Kategorie italienischer Kriegsverbrecher, die vor dem Gericht gestellt, verurteilt und bestraft wurden, sind die letzteren, d. h. diejenigen, die Kriegsverbrechen gegen Kriegsgefangene begangen haben, gegen Briten, Amerikaner oder Soldaten aus dem Commonwealth. Es handelte sich z. B. um britische Gefangene, die nach Fluchtversuchen aus einem Internierungslager in Apulien getötet wurden. Nach dem Krieg sind viele Prozesse durchgeführt worden, vor allem auf britischer Seite, und es gab schon einige wenige Todesurteile gegen Italiener. Das berühmteste Beispiel ist das von General Bellomo, der von einem britischen Gericht zum Tode verurteilt und im Spätsommer 1945 erschossen wurde. Dieser General Bellomo hatte auch große Verdienste im Kampf gegen die Deutschen. Nach dem Waffenstillstand hatte er den Hafen verteidigt, ich weiß nicht mehr, ob es um Bari oder Brindisi handelte, jedenfalls hatte er eine wichtige Rolle gespielt. Aber zuvor war er beschuldigt worden, einen britischen Kriegsgefangenen getötet zu haben, und deswegen wurde er erschossen. Aber alle anderen kamen völlig ungeschoren davon. Es handelte sich um tausend Soldaten, darunter auch Zivilisten, die wegen Kriegsverbrechen angeklagt waren, für Verbrechen gegen Zivilisten in Jugoslawien, in Griechenland, aber auch für in Äthiopien. Badoglio und Graziani waren zum Beispiel von Äthiopien angeklagt worden. Sie wurden nicht verurteilt, sie wurden nicht verhaftet und ausgeliefert, wie es die internationalen Abkommen vorschreiben. Das ist ein besonders wichtiger Punkt. Das geschieht aufgrund des Artikels 29 des sogenannten langen Waffenstillstands. Italien unterzeichnet zwei Waffenstillstandsverträge, den kurzen und den langen. Der kurze Waffenstillstand wurde am 3. September, der lange am 29. September unterzeichnet. Artikel 29 des langen Waffenstillstands sah vor, dass Italien verpflichtet war, Mussolini und alle anderen Kriegsverbrecher an die alliierten Streitkräfte auszuliefern; das wurde auch im Artikel 45 des im Februar 1947 unterzeichneten Friedensvertrags aufgenommen. Diese internationalen Verpflichtungen wurden von Italien, von der damaligen Regierung der antifaschistischen nationalen Einheit, nicht erfüllt. Diese Regierung verteidigte eine andere Forderung: Unsere Kriegsverbrecher verurteilen wir selbst, wir liefern sie nicht aus, wie es die Abkommen vorschreiben, weil wir nicht Mussolinis Italien sind. Wir sind das neue antifaschistische demokratische Italien, wir beanspruchen das Recht, über diese Kriegsverbrecher zu urteilen. Das kollidierte stark mit dem Waffenstillstand und dann mit dem Friedensvertrag, aber die italienischen Regierungen hatten Handlungsspielräume, oder – besser gesagt – dieser Regierung wurden Handlungsspielräume von den britischen und amerikanischen Besatzungsmächten anerkannt. Lange hat man gedacht und gesagt, dass die Briten die Kriegsverbrecher geschützt hätten. Zweifellos hatten die Briten Interesse, die italienischen Kriegsverbrecher zu schützen, z. B. Badoglio, der den Waffenstillstand unterzeichnet hatte. Aber in Wirklichkeit waren es noch mehr die Amerikaner. Denn die Briten beabsichtigten schon lange, die italienischen Kriegsverbrecher tatsächlich zu bestrafen. Nicht nur diejenigen, die die Verbrechen an ihren Kriegsgefangenen begangen haben, sondern auch diejenigen, die Verbrechen in Jugoslawien eher als in Griechenland begangen haben. Dann aber änderte sich diese Position rasant in eine für Italien günstige Richtung, auch die amerikanische Position. Das geschah später, im Mai-Juni 45, als der Krieg gerade vorbei war, nach der vorübergehenden jugoslawischen Besetzung von Triest und Julisch Venetien, von Mai bis etwa Mitte Juni 1945. Zu diesem Zeitpunkt, gegenüber einer sozusagen kommunistischen Drohung von Titos Jugoslawien gegen Italien und gegenüber den Nachrichten über die Foibe, also über die an den Italienern begangenen Verbrechen, verhärtete sich die amerikanische Position sofort. Jugoslawien war Italiens Hauptankläger, weil von den tausend Kriegsverbrechern, die in den Listen der Vereinten Nationen eingetragen waren, 750 von Jugoslawien angeklagt wurden. Jugoslawien erschien in den Augen der Amerikaner damals einfach im Jahr 45, als Schachfigur zum Tausch. Die Amerikaner versteiften sich sofort. Da die alliierte Regierung in Italien eine anglo-amerikanische Regierung war, hätten die alliierten Militärbehörden die italienischen Kriegsverbrecher verhaften und ausliefern sollen. Diese Militärbehörde war jedoch aus Briten und Amerikanern zusammengesetzt. Ab dem Moment, in dem sich die Amerikaner 1945 in den Weg stellen, bleibt das Auto stehen. Es ist in keiner Weise möglich, die Identifizierung, die Verhaftung und die Auslieferung italienischer Kriegsverbrecher nach Belgrad oder nach Athen durchzuführen. Hier kann sich die italienische Regierung über einen effektiven Handlungsspielraum freuen, der ihr ermöglicht, sich gegen den Wortlaut des Waffenstillstands zu stellen. Unter den Kriegsverbrechern, deren Auslieferung Jugoslawien verlangte, gab es große Namen. Es ging vor allem um Mario Roatta, Kommandeur der zweiten Armee in Slowenien, Kroatien, Dalmatien. Er war die Nummer eins auf der Liste der Kriegsverbrecher, nach der jugoslawischen Auffassung. Er war unter Badoglio Chef im Generalstab der Armee geblieben. Ein weiterer Kriegsverbrecher war Vittorio Ambrosio, ebenfalls ehemaliger Kommandeur der zweiten Armee in Jugoslawien, der sogar Stabschef der Streitkräfte unter Badoglio geblieben war. Tatsächlich wurde ein Skandal 1943 durch die Nachricht ausgelöst, dass die Führung der Militärregierung der Regierung Badoglio zwei Kriegsverbrechern nach jugoslawischer Auffassung anvertraut wurde. Es gab auch äußerst lebhafte Proteste, sogar im englischen Parlament, so sehr, dass zumindest Ambrosio und Roatta zurücktreten müssten. Sie wurden aber niemandem ausgeliefert, sie kamen mit heiler Haut davon, aber zumindest wurden sie dazu gezwungen, ihre Stellen aufzugeben. Also niemand wird von Italien ausgeliefert, weil Italien gesagt hatte, ich verurteile selbst meine Kriegsverbrecher. Tatsächlich hatte man damit angefangen, etwas zu tun. Im Kriegsministerium wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt, die die Stellung der angeblichen – wenn wir sie so nennen wollen – italienischen Kriegsverbrecher untersuchen sollte. Tatsächlich wurden Untersuchungen über mehr als 300 Personen durchgeführt und am Ende wurde auch eine Liste von etwa 40 Personen erstellt, die als Kriegsverbrecher galten, vor allem Soldaten, aber auch Gouverneure von Dalmatien und andere. Das heißt, dass die italienische Seite Beweise gegen sie gesammelt hatte, die zeigten, dass diese Personen sich nicht anständig benommen hatten, gerade keine Heiligen gewesen waren und deshalb vor Gericht gestellt werden mussten. Darunter war der bereits erwähnte Mario Roatta, Alessandro Pirzio Biroli, Gouverneur von Montenegro, und viele andere. Aber dann: wurden diese Gerichtsverfahren eröffnet? Nein, überhaupt nicht. Wir haben sie nie gemacht, weil es einen wichtigen Aspekt zu berücksichtigen gibt. Im Juni 1948 brach Tito mit Stalin, mit der Sowjetunion, also mit dem Land, das Jugoslawien, Italiens Hauptankläger, international unterstützte. Auch für die Frage der Kriegsverbrecher. Der Bruch mit der Sowjetunion bedeutete, dass Jugoslawien keine internationale Unterstützung mehr hatte. Im Gegenteil brauchte sie an dieser Stelle die Unterstützung des Westens. Sie musste auch in Zukunft wieder gute Beziehungen zu Italien aufbauen. Und so gibt es von diesem Augenblick an auf jugoslawischer Seite keinen Druck mehr, italienische Kriegsverbrecher zu verurteilen. Darüber gibt es einen ganzen Briefwechsel zwischen der italienischen Regierung, der Regierung De Gasperi, dem Außenministerium und dem Kriegsministerium, das dann zum Verteidigungsministerium wurde. Jugoslawien will niemanden mehr vor Gericht stellen, aber wir sind entschlossen, sie vor Gericht zu stellen, wir haben die Ermittlungen schon durchgeführt, alles ist bereit, um die Prozesse durchzuführen. Was tun dann aber? Aus rechtlicher Sicht bleibt es nicht anders übrig, als sie vor Gericht zu stellen. Da gibt es eine brillante Idee der sozusagen Verteidiger dieser angeblichen italienischen Kriegsverbrecher; sie sagen: „Nun, es gibt einen Artikel des Kriegsstrafgesetzbuches, Artikel 165, der die Möglichkeit, italienische Staatsbürger wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen, von Gegenseitigkeit abhängig macht“. Das heißt, ich verurteile meine eigenen, die in einem bestimmten Land Verbrechen begangen haben, wenn dieses Land seine Bürger vor Gericht stellt, die Verbrechen gegen italienische Staatsbürger begangen haben. Dieses Land ist Jugoslawien, und worauf wird hier Bezug genommen? Auf die Verbrechen der Foibe. Also ich – die italienische Regierung, genauer gesagt der Militärstaatsanwalt, der den Prozess führen musste – prozessiere meine Bürger nur, wenn Jugoslawien auch seine Bürger für die Foibe vor Gericht stellt. Das hatte offensichtlich damals weder Hand noch Fuß. Tito hätte nicht seine engsten Mitarbeiter wegen der Foibe vor Gericht gestellt. So wurden auf der Grundlage des Artikels 165 im Juni 1951 alle Ermittlungen gegen italienische Kriegsverbrecher von italienischer Seite eingestellt, Sie hätten zu einem Strafverfahren führen sollen, sie werden stattdessen blockiert und archiviert, nichts wird unternommen. Das ist natürlich sehr interessant, denn es besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen der Foibe-Frage und der Frage der italienischen Kriegsverbrechen. 2008 versuchte jemand, das Thema wieder aufzugreifen, weil ein ehemaliger Militärrichter, Sergio Dini, einen Brief einreichte, eine Beschwerde an den Rat der Militärjustiz; dort bezog er sich genau auf die Tatsache, dass der Artikel 165 über die Gegenseitigkeit, der alles blockiert hatte, nicht mehr existierte, weil das Gesetzbuch 2002 reformiert worden war. Daher würde jetzt die rechtliche Möglichkeit bestehen, Prozesse gegen italienische Kriegsverbrecher abzuhalten; seiner Meinung nach gäbe es ja sogar die ethische Pflicht dazu. In Wirklichkeit, auch jetzt, sind die Prozesse nicht gemacht worden. Der Militärstaatsanwalt Antonino Intelisano, derselbe Staatsanwalt, der zehn Jahre zuvor den Prozess gegen Priebke, also den Prozess gegen den deutschen Kriegsverbrecher geführt hatte, hat ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannte eingeleitet. Diese Ermittlung hat aber einige besondere Merkmale. In der Anklageschrift wurde nicht der Artikel 185 verwendet, der die lebenslange Haftstrafe für diejenigen ermöglicht, die Kriegsverbrechen begangen haben. Das ist der Artikel, den sie gegen deutsche Kriegsverbrecher verwendet haben, zum Beispiel Kappler, Reder usw. Stattdessen wurden andere Artikel des Militärgesetzbuches verwendet, wie der über exzessive Vergeltung. Diese Taten wären also kein Kriegs- oder Vernichtungsverbrechen, sondern Dinge, für die max. zwei oder drei Jahre Gefängnis vorgesehen sind. Abgesehen davon, was hat Intelisano getan? Er griff die Liste der Kriegsverbrecher auf, die 1948 von der italienischen Kommission erstellt worden war und die Namen von Personen enthielt, die zu dieser Zeit in hohen Positionen waren. Es handelt sich um Leute, die damals schon 50 Jahre alt waren. Intelisano stellte fest, wie erwartet, dass sie alle bereits zwischen den 70er und 80er Jahren gestorben sind, also sagte er: „Nun, es ist niemand mehr am Leben, ich schließe die Ermittlungen“ und so hat er gemacht. Also wurde es nichts daraus.
BERTOLUCCI FRAGE: Abgesehen von dem unausgewogenen Gleichgewicht zwischen italienischen Kriegsverbrechen und Foibe, welche Bedeutung, welches Gewicht hat dieses gescheiterte italienische Nürnberg in der Wahrnehmung gehabt, die wir heute vom Faschismus haben?
FOCARDI ANTWORT: Meiner Meinung nach hat das sehr viel gewogen. Wenn wir darüber nachdenken, ist es klar, dass Konfrontationen im Gerichtssaal mit wichtigen Angeklagten, ein echter Prozess gegen Marschall Graziani für die Verbrechen in Äthiopien oder gegen Badoglio oder Mario Roatta auch mediale Ereignisse gewesen wären, die unweigerlich die Gesellschaft einbeziehen. Das heißt, sie zwingen das Land, sich mit diesen Seiten auseinanderzusetzen. Das ist offensichtlich für Deutschland geschehen, das ist für Japan passiert, die unter anderem heute zwei große Verbündete Italiens sind. Es gab den Tokio-Prozess, zum Beispiel. Wohlgemerkt haben eine solche Wirkung in der jeweiligen Gesellschaft nicht nur die großen Nürnberger oder Tokioter Prozesse, sondern auch die Tausenden Prozesse, die gegen deutsche Kriegsverbrecher, gegen japanische Kriegsverbrecher geführt worden sind. In Italien ist dies nicht geschehen. Italien sticht darin hervor, auch im Vergleich zu einem Land wie Frankreich. Das war zwar von den Nazis besetzt, es gab aber auch das kollaborierende Vichy-Regime. In Frankreich gab es in den 80er und 90er Jahren große Prozesse gegen französische Kollaborateure, die in den Holocaust verwickelt waren, wie gegen Maurice Papon, einen 90-jährigen Vichy-Beamten, damals gaullistischer Minister, Chef der Pariser Polizei. Er wurde vor Gericht gestellt und zu einigen Jahren Gefängnis verurteilt. Wenn ich mich richtig erinnere, zwang dieser Prozess Mitte der 90er Jahre die Franzosen, dieses Kapitel wieder aufzuschlagen, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. So etwas hatten wir in Italien nie und werden es jetzt natürlich auch nicht mehr haben. Ja, das hat viel Gewicht gehabt, das hat eine in der öffentlichen Meinung ein so zu sagen versüßtes Bild des Faschismus unterstützt, als ein Rosenwasser-Regime, als die braven Italiener, die nur Retter der Juden sind … Ich finde, dass das Ganze eine starke Bedeutung, ein starkes Gewicht gehabt hat. Ja, sicher, und wie!