Abschrift des Interviews Andrea Pennacchi

Was bedeutet es, das Leben des eigenen Vaters, eines Überlebenden der NS-Lager, zu recherchieren, sein Leben im Konzentrationslager nachzuvollziehen und dann auf die Bühne zu bringen? Wir haben mit Andrea Pennacchi, Schauspieler, Dramatiker und Theaterregisseur, darüber gesprochen. Wir versuchen dabei zu verstehen, wie wichtig es ist, heute über Erinnerung zu sprechen

Frage: Wer war Ihr Vater und was war seine Geschichte?

PENNACCHI ANTWORT: Mein Vater war ein junger Handdrucker, ein Typograf, 1944 17 Jahre alt, bei den SAP (Squadre d´azione patriottiche, patriotischen Aktionskommandos) meldete. In Wirklichkeit wurde er in einem Italien geboren, das bereits faschistisch war, aber er fühlte auch, wie viele andere junge Menschen, dass es an der Zeit war, etwas gegen diese Diktatur zu unternehmen. Die Wut war nicht ideologisch, sie richtete sich eher gegen das Regime, das einen verheerenden Krieg gewollt hatte und dann im Wesentlichen davongelaufen war. Sie waren in der Garibaldi-Brigade, aber sie waren noch keine Kommunisten, in dem Sinne, wie es zum Beispiel mein Onkel Kommunist war. Er, der Bruder meiner Mutter, stammte stattdessen aus einer ausgeprägten und langen politischen Tradition. Mein Großonkel war eingesperrt gewesen. Es gab eine ganze Vorgeschichte. Mein Vater war ein junger Mann, der an einem bestimmten Punkt „Es reicht!“ gesagt hatte, „Ich möchte auch etwas tun, um das nazi-faschistische Joch auf dieser Nation, auf unserem Land zu beenden.“ Leider kam es vor, dass einer aus der Bande entdeckt wird, aus der Gruppe, zu der mein Vater gehörte; er wird wie üblich gefoltert und er ist ein Junge, dabei nennt er auch die Namen der anderen. Sie werden von der politischen Polizei – unter anderem haben wir auch den Namen vom Brigadier Miniero von der politischen Polizei in Padua – gefangen genommen und vor Gericht gestellt. Er wurde in Padua vor Gericht gestellt, wo der Staatsanwalt die Todesstrafe für viele forderte, nicht für meinen Vater. Für ihn hatte der Staatsanwalt 15 Jahre gefordert, nur für die Führer hatte er die Todesstrafe gefordert. Doch es kam anders, denn die Gruppe wurde dann in Verona in einen Zug verladen und nach Österreich zur Zwangsarbeit geschickt, weil Deutschland Arbeitskräfte für seine Kriegsanstrengungen brauchte und sie daher als solche wertvoller waren als erschossen. Er endet in Ebensee. Ebensee ist ein etwa eigenartiges Lager. In dem Sinne, dass es sich vorwiegend an einem schönen Ort befindet, wie ich in meiner Vorstellung erzähle. Denn es ist beeindruckend, man kann es kaum glauben, dass an einem so schönen Ort oft so schlimme Dinge passiert sind. Mich hat die Geschichte des Lagers Ebensee beeindruckt. Am Anfang war das ein Konzentrationslager für politische Häftlinge und für diejenigen, die man als Asoziales bezeichnete; dann wurde es zu etwas anderem wird, weil jemand, ein großer Boss, Hitler davon überzeugt hatte, dass Deutschland im Besitz der Raketen, der Interkontinentalraketen war, mit denen man die Vereinigten Staaten treffen und damit den Krieg beenden konnte. Offensichtlich dachte man, dass die Vereinigten Staaten, wenn sie einmal auf ihrem Territorium getroffen wurden, kapitulieren würden. Aber diese Raketen gab es nicht. Noch verrückter ist es, dass eines Tages jemand sagt: „Ja, eh, aber diese Raketen, nicht existierende Raketen, kann man nicht im Ruhrgebiet halten, wo sie uns jeden zweiten Tag bombardieren. Wir müssen einen geheimen Ort finden.“ Da sind die Ebensee-Höhlen. Sie kommen jemandem in den Sinn und die Internierten werden dazu gebracht, Tunnel zu graben, sie breiter zu machen, um Raketen aufzunehmen, die nicht existieren. Und deshalb kommen sie aus Mauthausen. Häftlinge werden nach Ebensee geschickt und so wächst das Lager enorm. Nicht nur das, das Lager wird dann der SS gegeben, und sie sind offensichtlich verwirrt. Denn ein Arbeitslager ist eine Sache, ein Konzentrations- und Vernichtungslager eine andere, aber hier haben sie Zigeuner, Juden und all diese Rassen, die sie massakrieren wollten. Und so wird Ebensee zu einer besonders feinen Hölle. Es gibt ein schönes Buch über Ebensee. Das hat ein österreichischer Forscher geschrieben, der auch meinen Vater gefragt hat. Ich habe den Brief zu Hause, er hat auch meinen Vater gebeten, seine Memoiren beizusteuern, und es ist schön. In dem Sinne, dass es uns die Hölle sehen lässt, jedoch unter einer wissenschaftlichen, positivistischen Perspektive auf die alte Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts, also ohne jede Art von Pathos, Übertreibung, Rhetorik. Es wird sauber erzählt, Daten, Zahlen und Zeugnisse werden wiedergegeben. So verstehst du, dass dieses Lager wirklich die Hölle auf Erden ist. Es ist offensichtlich, dass es Schlimmeres gibt. Es gibt Auschwitz, wo ein schrecklicher Völkermord verübt wurde, aber Ebensee ist insofern verfeinert, als er alle Rassen vereint, all jene, die vom Nazi-Regime als Abweichler bezeichnet wurden, und sie dort hinstellt. Damit sie alle an Arbeit und Misshandlung sterben, weil sie offensichtlich äußerst misshandelt wurden. Ich füge diese Sache hinzu, die ein kleines Happy End hat. Neben dem Happy End meines Vaters, der im Juli 45 nach Hause zurückkehrt, gibt es noch ein weiteres kleines Happy End. Die Gruppe war zuerst in Mauthausen angekommen, wo die erste Quarantäne hätte stattfinden sollen, in der viele gestorben wären. Dann kam die Markierung mit der Nummer auf dem Arm. Da Mauthausen gerade bombardiert wurde, wird der Zug direkt nach Ebensee geschickt, sodass mein Vater und seine ganze Bande die Nummer nie auf dem Arm hatten. Das bedeutete, dass ANED mir zum Beispiel, als ich nach Mailand reiste, erzählte, dass der Fall Ihres Vaters immer etwas zweifelhaft war, weil er keine Nummer hatte. Aber Gott sei Dank, habe ich darauf beharrt. Ich kannte meinen Vater, er konnte diese ganze Geschichte nicht erfunden haben. So fand ich die Dokumente meines Vaters in Ebensee dank des Internationalen Roten Kreuzes, das mir Dokumente schickte. Der Name meines Vaters konnte nicht gefunden werden, weil der Deutsche, der die Namen bei der Ankunft eingetragen hatte, offensichtlich den Nachnamen meines Vaters falsch geschrieben hatte. Ein Nachname „Pennacchi“ war für einen Deutschen nicht gerade einfach. Und so ist mein Vater nun offiziell einer der Internierten.

BERTOLUCCI FRAGE: Wie sind Sie an diese Geschichte herangegangen, hat Ihr Vater gerne darüber gesprochen?
PENNACCHI ANTWORT: Nun, nein, wie Sie sich vorstellen können. Meine Annäherung hat zu einem späteren Zeitpunkt stattgefunden. Zu Hause lebte ich in einer Art Blase. Da sowohl der mütterliche als auch der väterliche Zweig der Familie Geschichten von Partisanen hatten, dachte ich, dass ganz Italien so geschaffen worden war. Dann stellte ich fest, dass es nicht so war. Aber in der Zwischenzeit lebte ich jahrelang mit diesem Zeug, dass, ja, Papa Partisan war, wie der Onkel, wie die Tante auch … das gehörte den akzeptierten Dingen und ich sagte: Schön, ich bin stolz auf meinen Vater. Aber ich habe ihn kaum nach etwas gefragt. Es schien mir normal. Mein Vater sprach fast nie über die Gefangenschaft, außer an zwei Momente, an die ich mich mit einer gewissen Wärme erinnere, weil dies jedoch viel über meinen Vater aussagt. Er hat mir zwei positive Dinge erzählt. Er erzählte mir von einem deutschen Unteroffizier. Da sie eine große Ladung Holz im Schnee gesammelt und dabei sich sehr Mühe gemacht hatten, schenkte der Unteroffizier ihm Kartoffeln, die für das Essen in einer ganzen Woche reichten.

Oder eine schmerzliche Erinnerung an die Zeit, als die Gefangenschaft endete und ein junger Rom zum ersten Mal seit Jahren einen ganzen Laib Brot in der Hand hatte. Der Roma konnte nicht anders und er hat alles aufgegessen: deswegen starb er an Verdauungsstörungen. Dies sind die beiden Geschichten, die ich von meinem Vater bekommen habe, bevor er starb.

BERTOLUCCI FRAGE: Hat er Ihnen auch erzählt, wie es war, zur Zeit des Regimes zu leben?
PENNACCHI ANTWORT: Nein, das nicht, nicht wirklich. Man muss bedenken, dass mein Vater eigentlich ziemlich zerstritten mit der Familie meiner Mutter war, von der viele im Versteck lebten, weil sie schon Feinde des Regimes waren. Mein Vater war ein normaler Mensch, mein Großvater hatte eine Firma, eine kleine Transportfirma mit Pferden in Partnerschaft mit seinem Bruder, und sie machten kleine Transporte, sodass sie nicht die Ferse des Regimes im Nacken spürten. Stattdessen erzählte er mir diese Sache: Als Kind ging er zum Transport mit dem Pferd in der Mitte der Stadt mit, dabei sah er eines Tages, dass einige Geschäfte schlossen. Es waren Geschäfte, die den Juden der Stadt gehörten, und er konnte sich das nicht erklären, weil er wirklich ein Kind ist. Man bedenke, dass er sich mit 17 Jahren zum Militär meldete und daher erlebte er den Faschismus in der 6en, 7en Klasse. Im Grunde brachte sein Großvater ein großes Opfer, damit er auf die Schule ging und Typograf wurde. Er hatte also keine Geschichten über das Regime an sich. Als er langsam mit anderen darüber sprach und sah, was um ihn herum vor sich ging, da er ein intelligenter Kerl war, kam er zu dem Schluss, dass er nicht so weitermachen konnte, dass es falsch war. Dass das Regime, in dem er geboren wurde und lebte, falsch war. Er wollte sich dann dieser Sache widersetzen. Offensichtlich hat er in dem Moment, als er sich entschied, sich dagegen zu wehren, die Repression in vollem Umfang erlitten. Da hat er endlich verstanden, warum das Regime so falsch lag. Und dann ging es weiter. Leider stirbt mein Vater und ich erkenne alle kleinen Mängel, die ein Sohn fühlt, alle Sachen, die er dem Vater davor hätte sagen sollen, einem Vater, den man auf jeden Fall sehr liebt. Der größte Mangel ist, dass ich meinen Vater nicht habe erzählen lassen, dass ich so wenig über seine Geschichte weiß. Zuerst habe ich gefürchtet, dass ich sie verloren habe, weil nur sehr wenige eine Erinnerung daran hatten. Aber dann habe ich an der Universität recherchiert. Gott sei Dank habe ich eine historische Abschlussarbeit an der Universität geschrieben, also habe ich eine historische Methode entwickelt. So habe ich eine ganze Reihe von Dokumenten gefunden und dann hatte ich das enorme Glück, meinen Onkel, meinen Ruf-Onkel zu finden, der Kommandant der Gruppe meines Vaters ist noch am Leben. Er lebt noch und wie so oft erinnert er sich vielleicht nicht mehr, was er zum Frühstück gegessen hat, aber er erinnert sich an 1944. Ich ging zu ihm, wir unterhielten uns lange über sie als Partisanen und dann als Häftlinge in einem Konzentrationslager. Das habe ich dann mit Büchern ergänzt. Ich habe das Glück gehabt, ein Buch zu finden, das vom Arzt des dritten US-Kavalleristen geschrieben wurde. Das ist das Regiment, das als Erstes in Ebensee bei der Befreiung einzieht. Im Buch sind viele der Dinge bestätigt, die mir mein Onkel erzählt hat. Was mich sehr zum Lachen bringt. Mein Onkel, dessen Kampfname Vladimiro war, erzählte mir von der Befreiung selbst in einer Weise, die ich für einen Witz hielt. Mir schien es, dass er versuchte, etwas Schlechtes in einer heiteren Tonart zu erzählen. Stattdessen stimmten viele der Informationen, die er mir erzählte, mit der Realität überein, also habe ich auch die Zuverlässigkeit der Quelle getestet.

BERTOLUCCI FRAGE: Aber … wie zum Beispiel?

PENNACCHI ANTWORT: Ein Beispiel ist etwas, das ich zu Beginn der Show erzähle. Der Panzerführer, der als Erster durch das Tor von Ebensee kommt, ist Unteroffizier Pomante. Das erfahre ich aus dem Tagebuch des Arztes. Und mein Onkel erzählte mir, dass der Sergeant, der das Tor öffnet und sie ansieht, diese Elenden, die 38 Kilogramm wiegen, „Managgia“ ausruft. Und er, mein Onkel, wendet sich voller Freude an meinen Vater und sagt: „Sakrament, Valerio! Die Neapolitaner haben uns befreit.“ Sergeant Pomante war Italo-Amerikaner, ein Veteran der Landung in der Normandie und der Ardennenoffensive, und so wird es plötzlich sehr wahrscheinlich, dass er ausrief, was viele Italo-Amerikaner als Schimpfwort „Managgia“ verwendeten. So wird die Geschichte meines Onkels, die wie ein Witz wirkte, plötzlich glaubwürdig.

BERTOLUCCI FRAGE: Noch eine Frage. Sie haben recherchiert, die Geschichte ihres Vaters geschrieben und ins Theater gebracht. Wurden Sie dafür kritisiert? Und: wie war es auf der emotionalen Ebene, diese Geschichte auf die Bühne zu bringen?

ANTWORT PENNACCHI: Ich habe keine Kritik bekommen, bis auf welche von manchen faschistischen Kerlen, die gesagt haben, es seien Dinge, die nicht mehr wichtig sind. Aber diese Kritik ignorieren wir. Denn das Vergessen arbeitet für den Faschismus. Auf emotionaler Ebene ist das Ganze eine furchtbare Reise gewesen. Wenn man bedenkt, dass mein Vater mit 17 Jahren bestimmte Dinge durchgemacht hat … in der Theateraufführung erzähle ich nur die weniger furchtbaren Aspekte, weil ich weiß, dass das Publikum ohnehin nicht zu sehr unterdrückt werden darf. Das Publikum muss die Möglichkeit haben, über die Dinge nachzudenken. Man darf ihnen nicht den Splatter, den Horror zeigen … es ist kein Zufall, dass die Griechen manche Dinge als obszön betrachteten, d. h. für solche, die man hinter den Kulissen machen sollte. Aber mein Weg ist furchtbar gewesen. Meine Frau hat gesehen, wie sich mein Gesicht verändert hat, als ich an diesem Text gearbeitet habe. Es war aber auch schön, weil es am Ende eine Geschichte mit einem Happy End ist. Eine Geschichte, die damit endet, dass mein Vater lebend nach Hause zurückkehrt und eine Familie gründet, seine politische Aktivität fortsetzt, aber auf eine bewusstere Art und Weise zusammen mit meinem Onkel. Dann gibt es eine außergewöhnliche Figur wie Leutnant Luconi, der ihnen sowohl vor als auch nach ihrer Gefangenschaft geholfen hat. Es gibt viele auffällige Charaktere. Jede Geschichte wird etwas, das auch einen Film verdient hätte, aber nicht, weil er mein Vater ist. Sondern weil es die Geschichte selbst ist, die am Ende so abenteuerlich ist. Nehmen Sie diese Worte natürlich mit einem Körnchen Salz. Obwohl er 38 Kilo und ein Jahr in einem harten Konzentrationslager verbracht hatte, hat mein Vater einmal gesagt, dass er sicherlich gestorben wäre, wenn die Amerikaner ein paar Monate später gekommen wären. Trotzdem beschloss er nach Hause zu gehen, während mein Onkel Typhus bekam. Mein Vater nahm ihn in den Arm und brachte ihn zu einem amerikanischen Arzt, der ihn mit Penicillin vollstopfte und rettete. Leutnant Luconi, der gerade befreit wurde, erholt sich für einen Moment und kämpft dann als Berater weiter. Zuerst Titos Militärberater und dann geht er nach Moskau, dann weiter nach Südamerika, sie sind in gewisser Weise wirklich heldenhafte Charaktere. Es entsteht also ungeheures Leid, das jedoch in einem zumindest zeitweiligen Happy End erlöst wird.

BERTOLUCCI FRAGE: Warum ist es wichtig, über das zu sprechen, was geschehen ist? Warum ist die Erinnerung wichtig?

PENNACCHI ANTWORT: Das ist etwas, was ich mich oft frage. Nehmen wir an, das Gedächtnis ist für viele Dinge wichtig. Zunächst einmal sagt ein gut gepflegtes Gedächtnis, wer du bist. Es hilft dir, dich daran zu erinnern, wer du bist. Dann muss aber auch die Erinnerung „betriebsbereit“ sein. Erinnerung ist das, was dir sagt, dass bestimmte Dinge passiert sind und wieder passieren können. Sie sagt aber auch – das ist auch das Schöne an der Erinnerung – dass sie auch besiegt werden können. In regelmäßigen Abständen kehrt es wieder, nennen wir es Faschismus, aber auf einer kosmischeren Ebene das Böse, es kehrt ständig wieder, kann aber besiegt werden. Ich glaube, dass dies auch der Sinn des Erinnerns ist. Erinnern um des Erinnerns willen ist nutzlos. Oder noch schlimmer, Erinnerung zur Rechtfertigung. Zum Beispiel sehen wir jetzt ständig Konflikte, in denen die Erinnerung oder die jüngste Geschichte zur Rechtfertigung von Aggressionen benutzt wird. Das ist nicht der gesunde Gebrauch des Gedächtnisses. Aber wenn es auf gesunde Weise verwendet wird, ist das Gedächtnis gut. Es ermöglicht dir, ein politisches Gewissen zu haben, und es ermöglicht dir, ein historisches Bewusstsein zu haben. Erinnerung erwärmt das Bewusstsein, nicht wahr? Denn was macht das Gedächtnis? Das Gedächtnis ist dein persönliches Ding, am Ende kann es aber auch ein kollektives Gedächtnis sein. Aber es ist immer noch ein heißes Thema, nicht wahr? Es verbindet einen mit der Geschichte. Die Geschichte in den Büchern hingegen ist objektiv, aber kalt, nicht besonders inspirierend. Stattdessen stellt die Erinnerung die Verbindung zwischen dir und der großen Geschichte dar. Und das auch durch emotionales Material. Das gilt, zu bewahren. Das ist der Unterschied zwischen dem Kampf gegen den Nazi-Faschismus und der Eroberung der Stadt Ur, 4000 Jahre vor Christus. Es gibt Dinge, die mich auch interessieren, aber operativ nicht so präsent in meinem Horizont sind.

BERTOLUCCI FRAGE: Gibt es etwas, das heute im Vergleich zu früher auffällt?

ANTWORT PENNACCHI: Eine Sache ist auffällig, dass wir es im Moment mit einer besorgniserregenden Verleugnung zu tun haben. Heute wird aber nicht geleugnet, wie es seit Jahren geschieht, die Existenz von Konzentrationslagern oder einer Politik. Heute wird nicht geleugnet, aber ihre Bedeutungslosigkeit wird gepredigt. Das ist es, was mir am meisten Angst macht, sie leugnet nicht. Das heißt, die neue Verleugnung sagt: „Aber ja, okay, das sind jetzt Dinge aus der Vergangenheit, was willst du …“ Stattdessen mahnt uns die Erinnerung gerade daran, dass diese Dinge der Vergangenheit nicht nur gewesen sind, aber auch wiederkommen können. Denn die Erinnerung erinnert dich daran, dass die Geschichte keinen linearen Weg zum Guten, zum Schönen hat. Geschichte ist ein Mäander. Es geht zurück, geht vorwärts, dreht sich um sich selbst und fängt dann wieder an … es ist also gut, sich daran zu erinnern, dass die Dinge zurückkommen können und die Erinnerung gerade heute äußerst relevant ist.