Interview mit dem Historiker Francesco Filippi

Warum sind wir in Italien immer noch Faschisten?

Warum erinnern sich viele in Italien mit Nostalgie an den Faschismus, den sie unter anderem nicht einmal erlebt haben? Warum hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass Mussolini auch Gutes getan hat und der Faschismus eine gute Version des Nationalsozialismus war, obwohl der Faschismus dessen Vater war, ihn inspirierte, und als Vorläufer und Modell für Rassengesetze, für die Anwendung von Gewalt und für die Unterdrückung von Gegnern fungierte? Warum also sind wir nach mehr als ein Jahrhundert nach dem Marsch auf Rom und nach mehr als 80 Jahre nach seinem Fall noch nicht in der Lage, den Faschismus zu verarbeiten? Wir haben darüber mit Francesco Filippi gesprochen, Historiker und Autor zahlreicher Bücher über die Zeit des Faschismus.

FRAGE: Filippi, warum sind wir noch nicht zu einer Abrechnung mit dem Faschismus, zu einer Entfaschistisierung gekommen? Warum stellt sich heute noch heraus, um eines Ihrer Bücher zu paraphrasieren, dass wir immer noch Faschisten sind?


ANTWORT FILIPPI: Um es ganz einfach auszudrücken, gibt es zwei Ursachen, eine interne und eine externe. Die externe Ursache besteht darin, dass keiner der Alliierten, anders als im Falle Deutschlands, die Durchführung eines internen Prozesses innerhalb des Faschismus gefordert hat. Das ist eine grundlegende Sache. Die Angloamerikaner machen in Rom keinen Prozess, wie es einen Nürnberger Prozess gab. Warum? In Italien, anders als in Deutschland, gab es bereits eine befreundete Regierung, nennen wir es so, denn am 25. April 1945 bestand die Notwendigkeit, einen neuen Krieg, den Kalten Krieg, zu führen, der begonnen hatte. Im Gegensatz zu Deutschland hatte Italien eine Widerstandsbewegung, der es die Schlüssel des neuen Staates oder des neuen Landes anvertrauen konnte, sodass es niemanden von außen gibt, der Gerechtigkeit für die zwanzig Jahre Mussolini forderte. Gegen wen hätten sie überhaupt ein Verfahren eröffnet? Gegen Leute wie Badoglio, mit dem sie bereits Vereinbarungen getroffen hatten? Es ist besser, einen Staat nicht anzutasten, der sich schlussendlich vorwärts bewegte und am Ende des Krieges für die Sache des Westens nützlich war. Eine andere Sache ist die interne Ursache, die nicht vergessen werden sollte. Der Faschismus ist ein langlebiger Totalitarismus, er dauert 20 Jahre, er dauert zwei Generationen von Italienern, die in die Kultur des Faschismus eingetaucht und aufgewachsen sind, und deshalb haben wir es mit Millionen von Italienern zu tun, die sich nicht leicht vor eine grundlegende Frage zur Entfaschistierung stellen konnten. Das heißt, wer war wirklich Faschist in diesem Italien? Da es keinen Parameter gab und keine Möglichkeit hatte, zu sagen, was den Unterschied ausgemacht hätte – na ja, abgesehen von den großen Hierarchien – wer könnte es sagen, völlig rein dem   zu sein.
Reinen Sie sich gegenüber dieser Vergangenheit. Waren Faschisten unter anderem die Universitätsprofessoren, die 1931 alle bis auf 12 einen Treueid dem Faschismus geschworen haben? Das bedeutet, dass die italienische Republik mindestens zwei Präsidenten der Republik hatte, die Faschisten waren, denn sowohl Einaudi als auch Giovanni Leone Universitätsprofessoren im Faschismus gewesen sind. Waren sie Faschisten? Kompliziert. Die Lehrer, die massenhaft die Propagandakultur des perfekten Libro Moschetto=Fascista perfetto (Das Gewehr dein Buch=Dann bist du ein perfekter Faschist) weiterführten, waren Faschisten. Auch dort war es schwierig. Wir sprechen hier über Hunderttausende von Menschen. War der Postbote ein Faschist? Er war der Letzte, das letzte Rad am Rad des Wagens jenes großen totalitären Zuges, der der Faschismus war. Aber gehörte er auf jeden Fall auch zum Regime auf seine eigene kleine Weise, weil er mit seiner täglichen Arbeit ein Propagandaregime aufrechterhielt. Es ist klar, dass die Frage zu schwierig war, die Parameter zu vage: Wer war Faschist gewesen? Boh! Reichte es aus, einen Parteiausweis zu haben? Die Rede ist von 4 Millionen Menschen 1943. Dies sind schwierige Zahlen, schwierige Fragen, die Italien, das aus dem Krieg kommt, lieber nicht stellt. Was löst das aus?
Die fehlende Bewusstwerdung und auch die fehlende Verantwortungsübernahme gegenüber dem vergangenen Regime, bedeutet, dass eine bestimmte Geschichte eines Faschismus, der nicht ganz schlecht, nicht ganz so streng wie der Nationalsozialismus gewesen wäre, jahrelang im Hintergrund überlebt und heute ein daraus folgende Narrativ immer wieder auftaucht. Heute ist die italienische Demokratie – seien wir ehrlich – nicht in ausgezeichneter Gesundheit, weil sie nicht besonders stark und stabil erscheint, es scheint nicht in der Lage zu sein, den Italienern Antworten zu geben. Wir haben das Verlangen nach einem starken Mann, der von einer Vergangenheit erzählt, die vielleicht nie existiert hat, die mythologisiert wurde, sodass im Vergleich zu bestimmten Krisenmomenten eine versüßte Geschichte des Faschismus wünschenswert erscheint, heute ist es so, dass jemand auf die Idee kommt, zu sagen: Ah, als er da war, war es besser. Ah, wenn er da wäre. Oder – ich zitiere mich selbst: Ah, er hat auch Gutes getan, während diese es nicht getan haben. Ich würde sagen, dass es ein Problem der öffentlichen Erzählung der Geschichte ist. Das öffentliche Narrativ Italiens hat sich nicht mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt und muss sich daher heute mit einer Gegenwart auseinandersetzen, in der das antifaschistische Wertesystem offensichtlich nicht Fuß gefasst hat, nicht alle Geister der Vergangenheit hinweggefegt hat


BERTOLUCCI FRAGE: Aber ist dieser Wunsch nach einem starken Mann vielleicht auch einer der Gründe, warum selbst die Regierenden den Faschismus oft nicht offen verurteilen?

ANTWORT FILIPPI: Absolut, auch hier gibt es eine Doppelzüngigkeit, teilweise durch die politische Referenzkultur gegeben. Ein Großteil des italienischen Regierungsestablishments stammt aus den Reihen der Movimento sociale Italiano (italienischen Sozialen Bewegung), darunter auch Giorgia Meloni selbst, die sich nie mit der faschistischen Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Das Flammensymbol der Arditi ist immer noch da, das dann zum Symbol des kämpfenden Faschismus Mussolinis wird. Sie haben es noch nicht mit dem Faschismus abgerechnet, es ist also schwierig. Zudem stellt der starke Mann sicherlich eine Abkürzung dar. Aber erlaube mir, polemisch zu sein: selbst die technischen Regierungen, die Italien in den vergangenen Jahren regiert haben – ich denke an die Regierung Monti und vor allem an die Regierung Draghi – sind Regierungen gewesen, die wenig mit demokratischer Repräsentativität zu tun haben. Sie stellen in der Tat ein Versagen der demokratischen Repräsentativität dar. Auch nach diesen Erfahrungen füllt sich eine Gesellschaft müde über die eigene Zukunft nachzudenken und bevorzugt diejenigen, die den Menschen sagen: „Komm, ich kümmere mich darum, mach dir keine Sorgen, ich werde die Probleme lösen“. Was unser Land unter Giorgia Meloni, aber vor allem unter Matteo Salvini, ist eine Politik unter dem Tenor: Wir finden jemanden, dem man die Schuld geben kann, Einwanderer, Europa und so weiter. Deshalb ist es nie die Schuld der zugrunde liegenden Gesellschaft, die nicht benötigt, Verantwortung zu übernehmen. Die Regierenden sagen, wir werden das Problem lösen, mach dir keine Sorgen, aber sie haben keine Rezepte in der Hand.


BERTOLUCCI FRAGE: War der Faschismus wirklich weniger böse als der Nationalsozialismus, oder ist er auf die gleiche Weise zu verurteilen? Und warum ist es nicht möglich, mit dem Faschismus abzurechnen?  

ANTWORT FILIPPI: Lassen Sie uns eines klarstellen. Das Erste, was klargestellt werden muss, ist, dass Italien bei aller Bescheidenheit das Urheberrecht des rechten Totalitarismus hat. Mussolini erfindet das Konzept des Totalitarismus. Selbst das Wort Totalitarismus ist das erste Mal in Italien in einem Artikel von Giovanni Amendola 1923 gefallen. Auf der Ebene der ideellen Verantwortung ist Italien der erste große Brutkasten und das erste große Labor des Social Engineering des zwanzigsten Jahrhunderts. Italien ist dann zu einer Schule aller Totalitarismen geworden, sowohl der rechten als auch der linken. Es liegt also schon eine Urschuld vor. Ferner könnten wir dann auch so argumentieren, wie es den Historikern nicht gefällt; wir könnten nämlich die »Güte« oder die Bosheit eines Regimes an den Toten messen, die es macht. Dann könnten wir sagen, dass der Faschismus weniger Tote als der Nationalsozialismus und der Stalinismus verursacht. Aber das liegt nur daran, dass unterschiedliche Zahlen angewendet werden. Der Faschismus war jedoch immer gewalttätig. Wo und wann er dazu in der Lage war, war der Faschismus immer eine Kraft, die sich durchsetzte, indem sie den anderen zermalmte. Der italienische Faschismus macht große Zahlen während der Kolonialzeit. Das tut er in Libyen, dort ist die Rede von 40.000 Toten bei der Niederschlagung des libyschen Aufstands. Das tut er in Äthiopien während der Eroberung. In Äthiopien ist die Rede von Hunderttausenden von Toten, und zwar nicht nur von Toten im Kampf, sondern auch von Toten durch Razzien, in Konzentrationslagern und so weiter. Man muss vielleicht auch die Geschichte des „unvollkommenen Totalitarismus“ vornehmen. So bezeichnete Hannah Arendt den Faschismus, wenn sie in ihrem Essay über den Totalitarismus sagt, dass der Totalitarismus Mussolinis im Vergleich zu dem von Hitler und Stalin ein unvollkommener Totalitarismus ist. Heute, viele Jahre später, muss man sagen, dass Arendt andere Brillen hatte. Erstens, weil sie die deutsche Realität mehr unter den Augen hatte, zweitens, weil sie die ideologisch-kulturellen Auswirkungen des italienischen Faschismus unterschätzt, drittens, weil sie eine eurozentrische Vision hat. Die meisten, fast alle Toten, die Nazi-Deutschland oder stalinistische Russland vorzuwerfen sind, sind in Europa und daher sind diese auffälliger. Die Toten, die der Faschismus auf der ganzen Welt verursacht, werden in der Regel in einer anderen Rechnung aufgeführt, und das sollte uns auch zum Nachdenken geben. Direkte Frage: War der Faschismus wirklich weniger böse als der Nationalsozialismus? Auf keinen Fall. Allenfalls – das hat vielleicht mit einer bestimmten Sichtweise und sogar einem gewissen Stereotyp von Italienern zu tun – war er sicherlich weniger effizient als der Nationalsozialismus und der Stalinismus. Wenn er also weniger Todesfälle verursacht, dann nicht aus Gutmütigkeit, sondern aus Ineffizienz, aus Leistungsschwäche. Der italienische Faschismus ist also kein unvollkommener Totalitarismus, wie Arendt sagt, sondern er ist ein ineffizienter Totalitarismus. Aber wenn er gekonnt hätte, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, dann hätte der italienische Faschismus sicherlich die gleichen Folgen gehabt wie der deutsche Nationalsozialismus.


BERTOLUCCI FRAGE: Die Vorstellung, dass einer der Hauptfehler Mussolinis und des Faschismus das Bündnis mit Hitler war, hat sich durchgesetzt. Aber ist das wirklich so?

FILIPPI ANTWORT: Die Vorstellung, dass Mussolinis einziger großer Fehler darin bestand, sich mit Hitler zu verbünden, ist ein Schwindel, eine Dummheit. Ich muss unter anderem sagen, dass es sich um einen Schwindel handelt, der innerhalb der faschistischen Partei selbst geboren wurde. Das war die Rechtfertigung von hohen Parteifunktionären wie Ciano, De Vecchi, Bottai, die am 25. Juli 1943 gegen Mussolini stimmten und ihm sagten: „Du hast nur einen schweren Fehler gemacht, indem du auf das falsche Pferd gesetzt hast.“ Aber das ist eine Ausrede, die durch das Wesen selbst des Faschismus leicht infrage gestellt werden kann. Der Faschismus wurde als antidemokratische und gewalttätige Bewegung geboren. Der Faschismus hat in seiner DNA die Idee der Notwendigkeit, Krieg zu führen. Mussolini war schon in der Theorie ein Kriegstreiber, als er 1919/1920, nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, seinen Anspruch zu regieren als „trincerocrazia“ (Herrschaft der Schützengraben) nannte und damit legitimierte. So nennt er einen Ort, ein Land, in dem jemand durch die Erfahrung und die Folgen der Schützengräben mehr Recht hat zu herrschen als andere. Er ist antidemokratisch, weil er glaubt, dass die Gewalt auf eine etwas darwinistische Art und Weise die Beziehungen zwischen den Menschen regelt, und das macht den Faschismus definitionsgemäß zu einer gewalttätigen, kriegstreiberischen Bewegung. Dass Mussolini den falschen Krieg geführt hat, das ist sicher wie das Amen in der Kirche. Es steht aber fest, dass er unbedingt mit aller Kraft den Krieg wollte, auch gegen die Meinung seiner Generäle. Das ist eine Tatsache, die auf historiografischer Ebene durch die Tagebücher Cianos und die Dokumente des damaligen Kriegsministeriums belegt ist. Mussolini hat also einen falschen Krieg geführt, das bedeutet aber nicht, dass er den Krieg nicht wollte. Im Gegenteil ist es meines Erachtens ein erschwerender Umstand für ihn, dass Mussolini erst dann in den Krieg eintritt, als er verstand, dass sein deutscher Verbündeter im Begriff ist, den Krieg zu gewinnen. In der Tat trat er in den Krieg ein, als Frankreich schon bezwungen war, als Großbritannien unter Bombenangriffen stand. Was Mussolini macht, ist kein Fehler. Fehlerhaft, reduziert, ist seine Sicht auf die Dinge. Er ist etwas blind, wahrscheinlich von seiner eigenen Propaganda geblendet worden. Sicherlich ist der Faschismus gewalttätig und auch rassistisch. Der andere Schwindel ist, dass die Rassengesetze von 1938 eine Ableitung, ein Gefallen, ein Zugeständnis sind, das dem deutschen   gemacht wird. Das ist ein Blödsinn. Die rassistischen italienischen Gesetze von 1938 sind keine Fotokopie der Nürnberger Gesetze von 1935 bis 36, sie sind eine Fotokopie der rassistischen Rassengesetze, die der italienische Faschismus für Äthiopien und Eritrea erfunden hat. Für Afrika und Somalia, also Italienisch-Ostafrika. Dies sind Gesetze, die eine Unterscheidung zwischen denjenigen, die Untertanen sind, und denen, die es nicht sind, auf der Grundlage der Rasse festlegen. Das sind Gesetze, die der Faschismus für seine eigenen afrikanischen Herrschaftsgebiete einführt. Einmal mehr, wenn wir das Feld, den Blick vom europäischen Schauplatz aus erweitern, würden wir entdecken, dass der italienische Faschismus einer der entschlossensten und brutalsten Totalitarismen ist. Zu sagen, es sei eine Rosenwasser-Diktatur gewesen, die im Grunde auch Gutes getan hat, ist nur ein Narrativ nach dem Zweiten Weltkrieg, um die Italiener von der Verantwortung, von den Schrecken ihrer Vergangenheit zu entlasten.


BERTOLUCCI FRAGE: Auch in Jugoslawien haben der Faschismus viele Tote gefordert

 ANTWORT FILIPPI: Absolut. In Jugoslawien haben die Faschisten so viele Menschen getötet, wie sie es nur konnten. Ich möchte betonen, dass wir in Bezug auf Zahlen über eine Brutalität sprechen, die durch die Zahlen selbst begrenzt ist und einen Partisanenkrieg betrifft. Auf dem Balkan, in Jugoslawien, aber auch in Griechenland, haben Italiener Razzien und ur-völkermörderische Operationen durchgeführt, die Kriegsgräuel und Kriegsverbrechen darstellen. Nach dem Krieg hat Italien sie vergessen und die Alliierten ließen dieses Vergessen Italiens zu. Sie waren aber Gegenstand von internationalen Untersuchungen. Jugoslawien hatte eine Liste italienischer Kriegsverbrecher und fragte nach ihnen, Jugoslawien wollte sie vor Gericht stellen. Sie wurden aber nicht vor Gericht gestellt. Denn Jugoslawien stand auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs, als dann der Kalte Krieg begann. Deswegen konnte man mit diesen Prozessen nicht fortfahren. Aber wir reden darüber. Von Prozessen, die nicht ins Licht gebracht wurden, die nicht stattfanden.


BERTOLUCCI FRAGE: Wie können wir angesichts der Morde, der Gewalt, der Repression und der Deportation tun, um mit dem Faschismus abrechnen?

ANTWORT FILIPPI: Zunächst einmal müssen wir uns vor Augen führen, was der Faschismus war. Weiterhin daran zu glauben, dass der Faschismus eine vorübergehende Lösung war, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, das Land durch eine neue Sichtweise zu regieren, dass es damit den berühmten faschistischen dritten Weg gegeben hat, die nicht funktioniert hat: Das ist nicht nur eine Beleidigung der Geschichte dieses Landes, sondern auch eine Beleidigung der Erinnerung dieses Landes. Das Erste, was wir machen müssen, ist anzuerkennen, dass der italienische Faschismus einer der schlimmsten Totalitarismen war, die die Geschichte dieses Planeten erzählt hat.  Davon muss man ausgehen und die Teile der Geschichte studieren, die die Italiener bisher als unverdaulich empfunden haben: die verschiedenen Besetzungen, die koloniale Gewalt, die Theorie des Faschismus. Aber die wirkliche Theorie. Nicht „Wir schicken die Kinder in die Kolonie, damit sie besser atmen können“ sondern die Theorien des Faschismus über die rassische Überlegenheit der sogenannten mediterranen Rasse, über die Notwendigkeit, Krieg zu führen, um nationale Interessen durchzusetzen, über die Möglichkeit, dass dieser Krieg kein konventioneller, sondern ein Vernichtungskrieg ist und daher ein Krieg, in dem die Italiener es sich alles leisten dürften. Das ist das, was tatsächlich in Äthiopien, Libyen und auch auf dem Balkan geschehen ist. Es würde genügen, zu wissen, was dieses Regime wirklich getan hat, um den verbreiteten Schwindel zu widersprechen oder damit die Leute sich schämen, die die Büste von Mussolini zu Hause haben, ihn behalten und darüber lachen. Ich spreche von Leuten, die Regierungsämter innehaben, wie von dem Präsidenten des Senats, Ignazio La Russa.


BERTOLUCCI FRAGE: Vielleicht sollten wir uns auch mit der eigenen Familiengeschichte auseinandersetzen, in der viele von uns Großväter oder andere Verwandten hatten, die glühende Faschisten waren und von denen überliefert wird, dass alles gut und schön war.

FILIPPI ANTWORT: Genau. Wir sollten aufhören, bestimmte Lesearten der Geschichte zu nutzen. Ein Beispiel: in Italien wird die Schlacht von El Alamein als eine Schlacht, eine italienische Niederlage aber als Sieg auf dem Feld der Ehre gefeiert, weil man der Wut der Briten doch widerstanden hat. Wir sollten uns daran erinnern, dass die Schlacht von El Alamein Teil des Versuchs der Einkesselung durch die Achsenmächte war, die es den Nazi-Faschisten ermöglicht hätte, Jerusalem zu erreichen. Stellen Sie sich vor, die Wehrmacht wäre in den 1940er Jahren in Jerusalem einmarschiert. Diese Schlacht von El Alamein ist der Beginn der Niederlage der Achsenmächte, und jeder gute Demokrat mit einem guten Gedächtnis sollte El Alamein feiern, indem er den Briten dankt, die Italiener und Deutschen besiegt und dank dieser Niederlage den Grundstein für die Befreiung Europas vom Nazi-Faschismus gelegt haben. Stattdessen sind wir immer noch hier beim Gedenken unserer ruhmreichen Infanteristen. Genauso gedenken wir unserer ruhmreichen Infanteristen in der Schlacht von Nikolajewka am 26. Januar 1943, in der die Alpini in einer stockenden Schlacht im Wesentlichen besiegt wurden. Jedoch kollaborierten sie am Vernichtungskrieg in Osteuropa, den die Deutschen jahrelang geführt hatten.  Wenn wir über Erinnerung sprechen, müssen wir über das gesamte Gedächtnis des Landes sprechen, und wir müssen über all die Geschichten sprechen, die dieses Gedächtnis zu erzählen hat. Denn sonst machen wir das übliche Familienbild, in dem wir schön, gut und anständig sind, höchstens Mandoline spielen, aber darüber hinaus nicht weitergehen. Aber ist dieses Familienbild nicht die Geschichte dieses Landes


BERTOLUCCI FRAGE: Gibt es etwas, das Ihrer Meinung nach hervorgehoben werden musste?

ANTWORT FILIPPI: Ich möchte mich an eine Sache erinnern. Italien wird oft als Freilichtmuseum angesehen, also als eine Sammlung vom Vergangenen. In Wirklichkeit war Italien ein großes Laboratorium der Zukunft. Italien ist in den Zwanzigerjahren mit der Erfindung des Faschismus ein Laboratorium der Zukunft gewesen. Italien ist ein Laboratorium der Zukunft in den Neunzigerjahren. Dort hat sich eine inzestuöse Beziehung zwischen Politik und Medien herausgestellt, die das Phänomen des Berlusconismus hervorbrachte, und wir sahen, dass Berlusconi nur der Vorläufer einer Kategorie von Menschen war, die die Medien benutzten, um politische Kampagnen zu führen. Wir sprechen heute über einen Elon Musk, der den Gesprächen des zukünftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten beiwohnt. Das sollte uns zum Nachdenken anregen, denn das ist etwas, das bereits vor zwanzig Jahren in Italien vorkam. Das heutige Italien ist ein Laboratorium für die Zukunft der Rechten, und ich sehe als Historiker, dass bestimmte öffentliche Narrative, die auf Nationalstolz beruhen, auf Souveränität, die zum Souveränismus wird, auf „Wir sind Herren in unserem Haus“, keine italienischen Eigentümlichkeiten sind. Ich spreche auch von Giorgia Meloni, aber auch von Matteo Salvini. Diese sind Beispiele, die in ganz Europa und im ganzen Westen Anziehungskraft finden. Und das sollte uns zum Nachdenken anregen. Wir dürfen nicht unterschätzen, was Italien im letzten Jahrhundert dem sogenannten Westen auch im Schlechten zu geben vermochte. Also ja, das möchte ich hinzufügen. Hören wir auf, Italien als etwas zu betrachten, das sich an die Vergangenheit klammert. Lass uns denken, dass große Innovationen, die aus sozialer Sicht leider negativ sind, oft von diesem Land ausgegangen sind, das voller Widersprüche, aber auch sehr offen für Experimente ist. Leider.