Interview mit dem Historiker Claudio Vercelli

Wie funktionierten die Konzentrationslager und welche wirtschaftliche Bedeutung hatte die Deportation?

Ein Ort, an dem das Gesetz nur das der Nazis war. Das Konzentrationslager war ein eigenes Universum mit Regeln, je nach Gutdünken der SS. Aber war das neu? Wie funktionierte das Lager-System? Wie hat es sich im Laufe der Jahre verändert? War es auch aus wirtschaftlicher Sicht für die Nazis wichtig? Und warum ist es so schwierig zu verstehen, wie viele Menschen in den Konzentrationslagern der Nazis ihr Leben verloren haben? Um diese Fragen zu beantworten, haben wir mit dem Historiker Claudio Vercelli gesprochen, Autor von Büchern und Forschungen zu diesem Thema.

BERTOLUCCI FRAGE: Herr Professor, waren Konzentrationslager eine Neuheit auf der Welt oder sind die Nazis schon bestehenden Beispielen gefolgt?
VERCELLI ANTWORT: Die Konzentrationslager der Nazis als solche waren keine Neuheit. Die Politik, die Teile der nicht kämpfenden Bevölkerung gegen ihren Willen an getrennten Orten zu konzentrieren, einer Konzentration, die offensichtlich erzwungen wurde und sie dort zu schikanieren, ist ein Element, das in verschiedenen politischen Aktionen zeitgenössischer Mächte verbreitet war. Angefangen bei den Kolonialmächten. Es genügt zu sagen, dass diese Art von Institution bereits in Kriegen wie dem anglo-amerikanischen Burenkrieg in Südafrika und nicht so sehr in den anderen Kriegen wie dem amerikanisch-spanischen Krieg, zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder sogar schon in den vorangegangenen Jahrzehnten aufgebaut und gewissermaßen getestet worden ist. Soweit wir wissen, hat das Vorhandensein von Orten der Konzentration, des Schikanierens und möglicherweise sogar der Eliminierung von Zivilisten, die für nichts verantwortlich waren, aber als Elemente betrachtet wurden, die den Besatzungsmächten oder jedenfalls den Mächten, die in bestimmten Gebieten präsent waren, Probleme bereiten sollten, unter anderem mit den Kolonialkampagnen zu tun, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufeinanderfolgten. Die Nazis haben einige Aspekte dieser Institution wieder aufgegriffen und sie zunächst an die deutschen Verhältnisse angepasst, d. h. an Deutschland ab 1933. Sie nutzten die Lager vor allem, um ihre Gegner zu konzentrieren und einzusperren und dann möglicherweise sogar physisch zu eliminieren.
Egal, ob es sich dabei um politische oder andere Gegner handelte, auf jeden Fall um Subjekte, die aus den unterschiedlichsten Gründen als gefährlich galten. Danach tritt eine andere parallele Geschichte dazu, und dies ist die Geschichte der Vernichtungslager, die eine eigene Geschichte oder als eigen angesehen wird. Dort finden wir eine Besonderheit der Nazi, die an sich eine schreckliche Neuerung ist, bei der aber eine eigene Entwicklung stattfindet.


BERTOLUCCI FRAGE: Wie funktionierte das System der Konzentrationslager und wie hat es sich im Laufe der Jahre verändert?

VERCELLI ANTWORT: Das Konzentrationslagersystem ist zunächst als eine Form der Rationalisierung von etwas entstanden, das schon vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus im Januar 1933 mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler Deutschlands existierte. Das bereits bestehende System zeichnete sich durch willkürliche Inhaftierungen aus, mit denen die Parteimilizen der NSDAP ihren politischen Gegnern begegneten: es handelte sich um Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, aber auch sonst um jeden, der in der jeweiligen Zeit als ein zu neutralisierendes Element identifiziert wurde. Diese Art der Haft wurde zum Beispiel in einigen Häusern, in einigen separaten Gebäuden von der Nazi-Miliz betrieben. Danach, als Hitler an die Macht kam, hat er sozusagen eine Regelung dieser Inhaftierungspraxis auferlegt, soweit eine solche Struktur durch Sondermaßnahmen geregelt werden kann. Tatsächlich wurde das erste offiziell anerkannte Konzentrationslager, Dachau, 1933 gegründet. Es wurde kein Hehl daraus macht, dass es einen neuen Ort der Inhaftierung und Umerziehung für diejenigen gab, die als Feinde des Volkes identifiziert werden, denn das ideologische Spiel, das damals gespielt wurde, bestand darin, das Regime dem Volk und der Nation aufzuzwingen, indem man sagte, das Regime sei ein Ausdruck des wahren Willens des Volkes und der Nation. Diejenigen, die sich nicht im Regime wiedererkennen, wenden sich gegen das Volk und die Nation und müssen deshalb eliminiert werden oder zumindest auf keinen Fall in die Lage kommen, mehr Schaden anzurichten. Davon ausgehend hatte sich diese Art von Einrichtung bis zu einem gewissen Grad entwickelt, obwohl die Zahlen der willkürlichen Verhaftungen in den Konzentrationslagern in Deutschland vor dem Krieg zwar erheblich, aber nicht exorbitant waren.
In Bezug zu denen, die von Anfang an darin Masseninhaftierungen sehen wollen, können wir Zehntausende von Inhaftierten zählen, aber nur wenige Gruppen werden systematisch ins Visier genommen: die politischen Gegner, angefangen bei den Kommunisten, die am hartnäckigsten und auch am besten organisiert waren, dann viele andere, auch Einzelpersonen, einzelne Subjekte. Unter den Inhaftierten waren noch die Angehörigen einer religiösen Minderheit wie Zeugen Jehovas, die sehr unter der Konzentration litten, da sie als Feinde des neuen Reiches, des neuen Deutschlands, identifiziert wurden, wegen einer ganzen Reihe von Ereignissen, die ich hier nicht erklären möchte. Es fanden auch erste Inhaftierungen von Zigeunern, der nomadischen oder Wandervölker, wie man heute sagt. Ferner wurden auch Menschen der sogenannten arischen Rasse inhaftiert, man wollte sie wegen ihres Verhaltens treffen, aber nicht durch allgemeine Gefängnisse, die weiterhin existierten und von der Justiz kontrolliert und Kontrollen unterworfen waren. Man wollte sie in Orten von außergerichtlicher Haft inhaftieren, die außerhalb der Gesetze, der selbst in den Jahren des Dritten Reiches formal geltenden Regeln stand, nämlich in den Konzentrationslagern. Danach kam der Wendepunkt mit dem Herannahen des Krieges, d. h. zwischen 1938 und 1939 mit dem Anschluss Österreichs an Deutschland, das radikalisierte eine Reihe von Verhaltensweisen des Regimes. Das, was die Nazis selbst die Judenfrage nannten, kommt dabei stark ins Spiel. Die Frage war nicht mehr, was mit den deutschen Juden zu tun, das waren etwa 600.000 bei einer Bevölkerung von 70 Millionen Menschen. Jetzt kamen auch die österreichischen Juden in Betracht, auch viele Juden in Osteuropa, in Abhängigkeit von dem Krieg gegen Polen und dann gegen die Sowjetunion und so weiter. Von diesem Zeitpunkt aus behält die Institution des Konzentrationslagers in gewisser Weise weiterhin die Funktion eines Ortes an dem politische, soziale und kulturelle Widersprüche gesammelt wurden, aber sie beginnt auch zu einem Ort zu werden, an dem Schritt für Schritt die Subjekte der per definitionem als Angehörige einer minderwertigen Rasse untergebracht wurden, also als Juden. Der nächste Schritt erfolgt Ende 1941, als es angesichts des Krieges gegen die Sowjetunion zu einer Radikalisierung kommt, nämlich der systematischen Vernichtung der Juden und der Angehörigen der minderwertigen Rassen. Das wird eine neue Institution hervorbringen, das heißt das Vernichtungslager, das eigentlich kein Ort der Konzentration war. Aber es war ein Ort der fast sofortigen physischen Eliminierung derjenigen, die dorthin deportiert worden waren. Konzentrationslager und Vernichtungslager existieren historisch nebeneinander, sie erfüllen zuweilen ähnliche Funktionen, aber sie haben sehr unterschiedliche Kriterien und Funktionsweisen. In ein Konzentrationslager wurde man deportiert und inhaftiert, ist dann in der Regel innerhalb von einem bis höchstens drei Monaten an Entbehrungen, Zwangsarbeit oder Gewalt gestorben. Mit einigen Ausnahmen für diejenigen, die überlebt haben. In den Vernichtungslagern hingegen überlebten die Menschen nicht. Sie kamen zum Beispiel am Morgen an, am Nachmittag waren wir schon zur Asche zerfallen. Nur ein kleiner Prozentsatz der Deportierten wurde am Leben gehalten, um die ungeheuerlichsten Aufgaben zu erledigen, wie die Beseitigung von Leichen aus den Gaskammern und so weiter. Ovverosia che fare degli ebrei non solo tedeschi, circa 600 mila su una popolazione di 70 milioni di persone, ma anche degli ebrei austriaci e in previsione anche di quegli ebrei, tanti, nell’Europa orientale, qualora si fosse mossa guerra a paesi come la Polonia, cosa che avviene nel 39, oppure l’Unione Sovietica e così via. Da lì come dire nascono l’istituto del campo di concentramento in qualche modo continua a mantenere la funzione di luogo di raccolta delle opposizioni politiche sociali culturali, ma inizia a diventare anche un luogo dove passo dopo passo inserire i soggetti appartenenti alla razza inferiore per definizione ovverosia quelle ebraica. Il passo successivo avverrà nel 41, alla fine del 41, quando davanti alla guerra contro l’Unione Sovietica si passerà, si transiterà verso una radicalizzazione ulteriore, quella dello sterminio sistematico degli ebrei e degli appartenenti alle razze inferiori. Ma questo genererà un nuovo istituto, cioè il campo di sterminio che non era propriamente un luogo di concentramento. Ma era un luogo di eliminazione fisica pressoché immediata di coloro che vi venivano deportati. Campi di concentramento e campi di sterminio coesistono storicamente fattualmente, assolvono funzioni a tratti similari, però hanno dei criteri e modi di funzionamento molto diversi. In un campo di concentramento si veniva deportati si veniva imprigionati e si moriva in genere per stenti, per il lavoro coatto, per i trattamenti violenti subiti, nel giro di uno o al massimo tre mesi. Con alcune eccezioni per quelli che sono sopravvissuti. Nei campi di sterminio invece non si sopravviveva. Si arrivava per dire al mattino nel pomeriggio, si era già ridotti in cenere. Soltanto una piccola aliquota di deportati veniva mantenuta in vita per svolgere i compiti più mostruosi come quella di rimuovere i cadaveri dalle camere a gas e così via.


BERTOLUCCI FRAGE: Wie sah der Tag für einen Deportierten aus? Und wozu wurde er gezwungen? War die Lage von Lager zu Lager unterschiedlich? Warum werden so viele von Lager zu Lager verschoben?

VERCELLI ANTWORT: Der Alltag war von der Härte der Gewalt, von systematischer Brutalität geprägt. Diese Brutalität war jedoch nicht nur gelegentlich oder grundlos, sondern sie war ein grundlegender und unvermeidlicher Teil des Systems der Konzentrationslager. In den Konzentrationslagern wurde man nicht nur ohne Grund bzw. zu Unrecht eingesperrt. Der Häftling wurde mit Plan und vorsätzlich misshandelt. Im Konzentrationslager wurden Sachen gemacht, die man im Gefängnis normalerweise nicht gemacht hat, oder wenn sie getan werden, dann als Ausnahme, nicht als Norm. Wenn man in den Dreißigerjahren in einem deutschen Gefängnis landete, hat man die Härte der Haft erlitten, aber innerhalb gewisser Grenzen waren Leben, Existenz und bestimmte elementare Rechte garantiert. In einem Konzentrationslager wurden diese Rechte jedoch außer Kraft gesetzt. Und das ist ein viel wichtiger Unterschied, den wir bereits eingangs erwähnt haben. Der Tag eines Deportierten bestand aus einer Reihe von Aktivitäten, die sich wiederum als absurd und bedeutungslos herausstellten. Aber diese Sinnlosigkeit, verzeihen Sie das Wortspiel, hatte Sinn. Der Deportierte musste allmählich verkümmern und dann sterben, indem er eine Erfahrung nicht nur von Gewalt, sondern von sinnloser Gewalt durchmachte und daher aus einer täglichen Routine von Schikanen bestand. Sehr oft wurden die Arbeitskräfte für Arbeiten eingesetzt, die vollkommen nutzlos waren, aber extrem schwer und lähmend waren. Die Schikane entfaltete sich durch eine ganze Reihe von Ritualen: vom Appell in den frühen Morgenstunden bis zum Transport in die Baracken am Abend, nach einem anstrengenden Arbeitstag, unterernährt und so weiter. Diese Aneinanderreihung musste in gewisser Weise dazu dienen, den Opfern einerseits, den Tätern andererseits, den Stempel eines Regimes aufzudrücken, eines Regimes, das einem nichts ersparte und eine neue Ordnung errichtete, indem es buchstäblich über die Körper und das Gewissen der Einzelnen hinwegging. Ich gebe zu, dass es nicht einfach ist, diese Sache hier zu verstehen, ich erkenne die Komplexität dieser Tatsache. Man fragt sich, welchen Sinn das, von einem tatsächlichen, materiellen Standpunkt ausgesehen, haben kann. Wäre es nicht besser, sie sofort zu töten, damit das Problem gelöst ist? Aber totalitäre Regime hatten schon immer eine Berufung, nämlich durch Beispiel zu erziehen und beispielhaft umzuerziehen. Wie wir bereits sagten, war es für die Deutschen nicht notwendig, genau zu wissen, was an diesen Orten geschah. Es war notwendig, dass ein fernes Echo zu ihnen gelangte, aus Orten, die den Augen des einfachen Bürgers verborgen geblieben sind, aber Orte, die an einem bestimmten Punkt neben dem Gestank von Leichen, als sich die Dinge während des Krieges auf besonders dramatische, wenn nicht gar tragische Weise entwickelten, auch ein Selbstbild ausstrahlten, das in gewisser Weise bedeutete: Wer sich nicht an die Regeln hält und sich nicht innerhalb der Parameter der neuen Nazi-Ordnung, den Befehl Hitlers hält, wird der Auszehrung und der Vernichtung überlassen. Und das wird dazu dienen, Menschen abzuschrecken, auch um eine – wenn auch falsche – Vorstellung von einer Ordnung zu geben, die tatsächlich funktionierte und auf dem Vormarsch war. Es geht also nicht darum, warum sie den Opfern diese Dinge angetan haben, es geht um das Bild, das dies zumindest indirekt in einer Gesellschaft im Wandel damals hinterließ, sodass sie die Brutalität als ein Element der Selbstbehauptung einverleibte, würde ich sagen.


BERTOLUCCI FRAGE: Gab es auch eine ökonomische Logik in der Deportation?

VERCELLI ANTWORT: Absolut. Am Anfang, zumindest bis zum Krieg, war die ökonomische Logik zweitrangig, wenn nicht sogar vollkommen unwesentlich. Mit den gigantischen Kriegsanstrengungen, die die gesamte deutsche Gesellschaft an den Rand des Abgrunds bringen, beginnt die Anwesenheit der Sklavenarbeit äußerst praktisch zu werden. Ein Faktor, der das Konzentrationssystem begünstigte, vor allem als Deutschland den Krieg im Osten begann, war über die Möglichkeit zu verfügen, Arbeit zu haben, die offensichtlich nicht bezahlt wurde, aber einen wirtschaftlichen Wert hatte, der quantifiziert wurde. Das geschah durch die Gefangennahme der Elemente der minderwertigen Rassen wie auch der Feinde, in diesem Fall etwa die russischen Kriegsgefangenen. Die SS selbst stellte innerhalb des Nazi-Regimes ein auch wirtschaftliches Imperium dar, das den Einsatz von Sklavenarbeit großen deutschen Unternehmen gewährte, die davon reichlich Gebrauch machten, vor allem in der Kriegswirtschaft. Als Gegenstück verlangte die SS eine Vergütung für jedes Element, für jedes Stück, das in Konzentrations- und Arbeitslager ausgeliefert wurde. Es gab die Industrien, die bereit waren, genau dieses System der systematischen Ausbeutung zu nutzen, d. h. es gab eine wirtschaftliche Rendite, bei der mehrere Akteure ins Spiel kamen. Einerseits haben die Industrien den Bau von Lagern oder deren Betrieb zu produktiven Zwecken in Auftrag gegeben. Andererseits hat der deutsche Staat selbst den Krieg durch die Kriegsbesteuerung der deutschen Bevölkerung und durch die Politik der Plünderung der Waren aus den besetzten Ländern finanziert. Ferner war die Struktur der SS selbst, die eben auch dank der Ausbeutung dieses Kreislaufs, der sich vor allem in Osteuropa ausgebreitet hatte, gespeist wurde.


BERTOLUCCI FRAGE: Warum wird über die einen Deportationen mehr gesprochen und über andere weniger, und wie hoch ist die Zahl der Deportationen?

VERCELLI ANTWORT: Wir haben insgesamt zwischen 5 und 6 Millionen ermordete Juden. Der Punkt ist, dass die Zahlen nie genau sein werden und auch, dass etwa 6 Millionen Nichtjuden in Konzentrationslagern getötet werden. Nun ist viel über rassistische Deportationen gesprochen worden, weil diese Deportationen eine einzige Funktion hatten, nämlich die Vernichtung einer menschlichen Gruppe, die genau nach dem Parameter der Rasse definiert wurde. Auch andere Deportationen hatten ebenso Elemente, die wir teilweise schon erwähnt haben. Das heißt die Ausbeutung als Arbeitskraft, d. h. Internierung im Gefängnis, um jede Form von Opposition zu neutralisieren und so weiter. Es ist nicht möglich, eine Hierarchie des Schmerzes aufzustellen, aber es ist offensichtlich, dass das Unternehmen der Vernichtung der Juden Ost- und Westeuropas, für die Juden und die Länder, die unter die Fänge der Nazis gefallen sind, in vielerlei Hinsicht ein einzigartiges Ereignis darstellt, d. h. die Schaffung nicht nur von Fabriken der Ausbeutung, sondern vor allem der Todesfabriken d. h. von Vernichtungslagern – die zahlenmäßig weit unter den Konzentrationslagern lagen – wo die Menschen sofort einer scheinbar neutralen aber unheilvollen Sonderbehandlung unterworfen wurden. Das ist ein Element und ein Faktor, der zumindest in der heutigen Zeit keine Entsprechung zu anderen, wenn auch sehr gewalttätigen Ereignissen findet. Auch hier geht es nicht darum, ich wiederhole es noch einmal, zu sagen, zu sagen, wer zuerst und wer danach kommt. Die Frage ist, zu verstehen, die verschiedenen Mechanismen der Deportationen zu verstehen und welche Art von Aufmerksamkeit ihnen dabei gewidmet worden ist. Wenn die Deportation eines politischen Gegners innerhalb des nationalsozialistischen Unterdrückungssystems noch einen Sinn haben konnte, zwar keine Rechtfertigung, aber doch einen Sinn, dann ist klar, dass die systematische Vernichtung wehrloser Zivilisten, nur weil sie einer vermeintlichen Ethnie, in diesem Fall der jüdischen, angehörten, eine ganz andere, nicht notwendigerweise oder nicht nur schlechtere Konnotation als die Erfahrung des politisch Deportierten hatte. Die Nazis hatten Projekte eines Nazi-Deutschlands, eines neuen Europas, einer neuen Ordnung, die unter der Knute der Arier-Nazis errichtet werden sollte. Für diejenigen, die nicht als funktionsfähig für die neue Ordnung angesehen wurden, wäre der einzige Platz auf dem ganzen Kontinent die Friedhöfe gewesen und nichts anderes. Aber zum Glück kam es anders, die Dinge entwickelten sich anders. Tatsache bleibt, dass das, was uns durch die schreckliche Geschichte jener Jahre überliefert wurde, dieser doppelte Kreislauf ist: Einerseits die Konzentrationslager und andererseits Vernichtungslager, mit einigen Überschneidungen zwischen dem einen und dem anderen Deportations-Kreislauf, die sich sogar voneinander unterschieden, aber gerade durch die Tatsache verbunden waren, dass sie Teil eines allgemeineren politischen Projekts waren, das den europäischen Kontinent nicht nur in politischer und kultureller, sondern auch in soziodemografischer Hinsicht verändern wollte.


BERTOLUCCI FRAGE: Warum ist es so schwierig zu verstehen, wie viele Menschen genau in den Nazi-Lagern ihr Leben verloren haben?

VERCELLI ANTWORT: Ich werde so antworten. Es ist nicht nur ein technisches Problem, das aber auf jeden Fall existiert, denn die Nazis haben irgendwie versucht, das Buch zu führen, sie waren sehr akribisch, aber es war eine Buchhaltung, die auf Zahlen und nicht auf Personen basierte. Der Punkt ist folgender. In einem solchen Projekt der radikalen Umgestaltung Europas durch den Einsatz dieser abscheulichen Instrumente gab es eine zugrundeliegende Idee der Gewalt, die auch eine Gründungsidee im Nationalsozialismus und vielleicht nicht nur in ihm war. Wir beschäftigen uns gerade damit. Die Quintessenz ist, dass von denjenigen, die durch diese Orte gingen und dort gestorben sind, keine Erinnerung bleiben darf. Es durfte nichts in Erinnerung bleiben. Die Vernichtung der Juden zum Beispiel beinhaltet die Zerstörung der jüdischen Gesellschaft in Europa, der jüdischen Gemeinden. Also die Deportation ganzer Familien, ganzer Ortsgemeinschaften und die Auslöschung nicht nur der Menschen, sondern der Erinnerung an sie. Dies war ein grundlegender Charakterzug des nationalsozialistischen Handelns. Weil es eine Annahme erfüllte, was ich das perfekte Verbrechen nennen möchte. Wenn es keine Erinnerung mehr an diejenigen gibt, die auf diese Weise ermordet wurden, kann man dann überhaupt noch von einem Verbrechen sprechen? Was tatsächlich war, hatte sich bereits verbraucht. Es soll keine Erinnerung an diejenigen geben, die von der Erde ausgelöscht wurden. Sogar die materiellen Beweise werden vernichtet, nicht nur für das Verbrechen selbst, sondern auch für die frühere Existenz dieser Menschen. Zum Beispiel die Plünderung ihres Eigentums, die Zerstörung der Dörfer, in denen sie lebten, und so weiter. Die Zerstörung der Friedhöfe: das war in Bezug auf die jüdische Bevölkerung eine sehr häufige Sache. Jemand hat gesagt: Bei diesem Regime sind nicht einmal die Toten sicher. Hier wird man sich an das erinnern, was auf der Seite der Nazis gesiegt hat, und an das, was in der übrigen Gesellschaft in der Zwischenzeit passiert ist. An die Art und Weise, wie die Dinge gemacht wurden. Nicht nur die Leichen werden ausgelöscht, z. B. durch Verbrennung, Einäscherung, Einschmelzen aus organisatorisch-logistischen Gründen oder durch buchstäbliches Auslöschen der Erinnerung. Sondern auch die Objekte, die Dinge, die diesen Menschen gehörten, wurden ausgelöscht. Ich will keine hochtrabenden Worte verwenden, um dieses Werk zu definieren. Es war ein Werk, das ich nicht als mephistophelisch, teuflisch bezeichnen will. Es war ein Werk, das seine eigene brutale und grausame Rationalität hatte. An dem Tag, an dem wir gewinnen und mit all denen, die wir zu vernichten haben, abgerechnet haben, wird es für die nächsten Generationen keine Erinnerung mehr geben, keine Erinnerung an das, was getan wurde, denn an diesem Punkt wird es keine Spuren mehr von denen geben, die wir zerstört haben, die wir vernichtet haben.