Transkript Interview Donatella Chiapponi
Welche Sprache wurde in den Konzentrationslagern gesprochen?
Sie wurden gefangen genommen und in ein fremdes Land deportiert. Und in diesem Land trafen die Deportierten nicht nur Kälte und Angst, aber auch eine unbekannte, harte und intuitiv kaum verständliche Sprache. Welche Rolle spielte die Sprache im täglichen Leben des Lagers? Wie nannten sie die Deportierten, welche Sprache sprachen sie? Außerdem: hat Sprache in der historischen Forschung eine Rolle gespielt? Um zu verstehen, wie die Menschen in den Konzentrationslagern miteinander kommunizierten, und um diese Fragen zu beantworten, haben wir mit Donatella Chiapponi gesprochen. Sie ist Historikerin und Autorin einer Studie und einer Veröffentlichung zu diesem Thema. Chiapponi, welche Sprache wurde in den Konzentrationslagern der Nazis gesprochen?
CHIAPPONI ANTWORT: In den nationalsozialistischen Konzentrationslagern kamen die Häftlinge aus ganz Europa, es gab ein klares Übergewicht der Bevölkerung des Ostens, Polen, Jugoslawen, Russen, aber auf jeden Fall handelte es sich um eine multiethnische und polyglotte Gemeinschaft. Auch Franzosen, Spanier, Italiener waren dabei und deshalb mussten wir in eine Welt eintauchen, in der es oft vorkam, dass jeder Gefangene in den Baracken mit Menschen unterschiedlicher Herkunft leben musste. Für den einen waren manchmal alle anderen Ausländer in der Baracke, sodass manchmal keinen einzigen Mitgefangen mit derselben Sprache in der Baracke hatte.
Die Sprache der Häftlinge ist im Italienischen als Lageresperanto bekannt, in Deutschland stattdessen als Lagerjargon oder Lagersprache bekannt; es gab dann eine polnische Variante. In den Fünfzigerjahren benutzte man den Begriff Lagerszpracha, also mit dieser Endung in „a“, das nicht deutsch, sondern polnisch ist. Die Sprache der Häftlinge war auf jeden Fall eine auf das wesentliche reduzierte Sprache, und zwar vorwiegend deshalb, weil der Häftling sich nicht gut ausdrücken konnte und die SS nicht wollte, dass die Häftlinge miteinander sprechen. Zwangsweise war die Sprache eine nackte, auf das Aller wesentlichste reduzierte Sprache. Wir müssen auch bedenken, dass der Gefangene, je länger er im Lager war, immer weniger Energie hatte.Die harte Arbeit, die mangelnde Ernährung stellten für Menschen an der Grenze ihrer Kräfte einen völlig anderen Kontext dar, als das Leben heute sein kann. Wenig Energie, wenige Kommunikationsmöglichkeiten beherrschten das Bild. In einem vom heutigen völlig umgedrehten Kontext handelte es sich um eine schizophrene Sprache. Sie bestand aus wenigen Worten. Das prägte die Sprache der Gefangenen. Ganz anders war die Sprache der Herrscher in den Lagern, derjenigen, die Überlebende „Folterknechte“ nennen. Das war eine rohe, raue, gewalttätige und beleidigende Sprache, die sowohl die SS als auch die anderen Überwacher nutzten. Das spiegelte die Realität des Nazi-Faschismus, der Diktatur gut wider. Vor allem die SS-Führer waren dazu erzogen (und sich darüber voll bewusst), dass das Geschrei und Beleidigungen, in Begleitung von Gewalt, also von Schlägen und Strafen, die Stimmung der Häftlinge stark beeinflusste und niederschlug. Das Ganze stellte eine wirkliche Strategie des Terrors und der Täuschung dar, die auch durch die Sprache funktioniert. Die SS benutzte oft mystifizierende Begriffe, Euphemismen, um die Wirklichkeit zu verschleiern, um so weit wie möglich Ordnung und damit die Kontrolle über die Deportierten aufrechtzuerhalten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Krematorien wurden Bäckereien, Feuerstellen, Kamine genannt
Die Duschen waren die Duschen, in denen sich in Wirklichkeit oft, aber nicht immer die Gaskammern verbargen. Die Häftlinge, die gezwungen wurden, in den Krematorien zu arbeiten, wurden Sonderkommando genannt, also ein Spezialkommando. Das Ziel war gerade, die Massen zu täuschen und so Panik und mögliche Aufstände zu verhindern. Das war das Hauptziel. Damals war die Haltung des SS-Blockführer im Wesentlichen eine der Ver- und Missachtung, für sie waren die Häftlinge „Untermenschen“. Das Wort »Untermenschen« wird von vielen Überlebenden genannt. Nicht nur Deutsche erwähnen es, sondern auch Italiener, Franzose, Spanier … dieses Wort ist im kollektiven Gedächtnis der ehemaligen Deportierten geblieben. Sie waren „Stück“, dieses Wort wird oft von Überlebenden genannt. Keine Menschen mehr, sondern Zahlen.
BERTOLUCCI FRAGE: Welche Merkmale hatte die Lagersprache?
CHIAPPONI ANTWORT: Vom syntaktischen Standpunkt aus war sie wirklich eine sehr, sehr reduzierte Sprache, die aus wenigen Worten und kurzen, prägnanten Sätzen bestand. Da die Häftlinge oft Ausländer waren und es daher offensichtlich schwierig wurde, sich zu verständigen, wurden Schlüsselwörter geschaffen. Worte, die den Insassen etwas aller Lager bekannt waren, Worte, die fast eher wie Botschaften in dem Leben des Lagers wirkten.
BERTOLUCCI FRAGE: Wie?
CHIAPPONI ANTWORT: Zum Beispiel war der SS-Begriff „Appellplatz“ aus der Sicht des Häftlings, als der Augenblick bekannt, in dem sie dezimiert wurden, weil die noch Arbeitsfähigen ausgewählt und die zu schwachen eliminiert wurden. Fall es möglich war, organisierte man sich, um unter den bestmöglichen Bedingungen auf dem Appellplatz anzukommen. Man muss bedenken, dass damals das Wecken mitten in der Nacht war und jeden Morgen dieser Appell gemacht wurde. Auf dem Appellplatz wurden die Häftlinge auch unerwartet im Laufe des Tages aufgerufen, und zu diesem Zeitpunkt fand die Selektion statt. Das ist nur ein Beispiel: auf dem Appellplatz versuchten die Häftlinge, sich so zu organisieren, dass so viele wie möglich, wie soll ich sagen, in Form dorthin ankamen, damit sie trotz allem als arbeitsfähig galten. Denn offensichtlich wurde der Häftling für Arbeitstätigkeiten ausgebeutet, solange er dazu in der Lage war. Dann wurde er in das geschickt, was in Anführungszeichen die Krankenstation, aber damals in der Wirklichkeit das Vorzimmer des Todes war, wo die endgültige Selektion für die Gaskammern stattfand. Organisieren war ein weiteres typisches Verb, das von allen verwendet und gekannt wurde und bedeutete, irgendwie zusätzliches Essen bekommen zu können. Glück in Anführungszeichen hatten diesbezüglich die Häftlinge in den Küchen. Denn sie waren in der Lage, etwas zu „organisieren“, das sie mit in die Baracke nehmen konnten. Dabei konnte auch eine Form der Solidarität und des Teilens entstehen. Auch auf der Grundlage der Zeugnisse, die ich gehört und gelesen habe, gibt es nicht wenige Fälle, in denen sich Solidarität und innerer Widerstand von den Häftlingen vor den Barackenvorstehern (Blockältesten) und der SS bilden. Ein anderes Beispiel war das „kłócić się, kłócić się“, das ist ein polnisches Wort, das analog zum „organisieren“ bedeutete, etwas zu stehlen, etwas auf irgendeine Weise zu bekommen. Ich weiß nicht, ob „organisieren“ zum Beispiel nicht nur in den Küchen, sondern auch in den Räumen verwendet wurde, in denen die Sachen den Gefangenen bei der Ankunft abgenommen wurden. Diese Sachen und Wertgegenstände wurden neu organisiert und geteilt, natürlich immer unter der Kontrolle der jeweiligen, sagen wir mal, Dienstleiter. Oft gelang es den Gefangenen in diesen Situationen, etwas zu stehlen und dann auf einer Art Schwarzmarkt natürlich heimlich in den Baracken gegen etwas anderes zu tauschen, das im besten Fall natürlich Essen sein konnte. Die Italiener wurden „Macaroni“, „Badoglio“ oder von den Polen „Italieni“ – also Italiani mit einer polnischen Endung – genannt. Neben der deutschen war die polnische Sprache eine zweite dominierende Sprache in den Lagern. Das lag daran, dass sich die Lager meistens am Ostrand Deutschlands an der Grenze mit Polen befanden und viele Häftlinge Polen waren. Aber auch viele Blockälteste waren Polen. Deswegen war Polnisch – neben Deutsch – die dominierende Sprache in den Lagern.
BERTOLUCCI FRAGE: Also alle Häftlinge sprachen miteinander eine Mischung zwischen Deutschem und Polnischem. Das war die Lagersprache, die sie benutzten, um miteinander zu kommunizieren.
CHIAPPONI ANTWORT: Ja, ja, ja, es war genau das, was sich später nach der Befreiung aus der Forschung ergab. Vielleicht noch einige Jahre später, denn das Studium der Sprache des Lagers begann nicht vor den Sechzigerjahren, es begann in Polen mit einigen Aufsätzen, zwei oder drei Aufsätzen von Wissenschaftlern. Genau das nannte man den Lagerjargon, das Esperanto-Lager: eine Sprache, bei der die vorherrschenden Wörter unter den Häftlingen sicherlich polnischer und deutscher Herkunft waren. Aber es wurden auch spanische, französische, italienische Wörter verwendet. Es wurden auch Worte – wenn vielleicht weniger – aus dem niederländischen Gebiet, sagen wir aus dem Ärmelkanal, aus diesem nördlichen Teil Europas.
BERTOLUCCI FRAGE: Wie wichtig war das Verstehen dieser Sprache im Alltag, für das Überleben?
CHIAPPONI ANTWORT: Sicherlich konnte das Leben retten. Ich erinnere mich besonders daran, dass ich das Glück hatte, Liliana Millul zu treffen und neben ihr auch einige ehemalige Deportierte interviewen zu können: eine ehemalige Deportierte aus Triest namens Marta Ascoli, und dann in Deutschland eine ehemalige Deportierte, Annie Lundholm. Sie alle erzählten mir Episoden, die sich damals in ihr Gedächtnis einprägten, in denen manchmal einzelne Worte zwischen den Häftlingen das Leben retten konnten. Wenn man verstanden hätte, was bestimmte Schlüsselwörter bedeuten, wie der Moment des Appells, könnte man sich organisieren, man könnte sich darum bemühen, um Situationen zu vermeiden, die für viele tödlich waren. Es war also entscheidend, die Sprache zu kennen, und ich muss sagen, dass ich viele Zeugnisse gelesen habe, in denen der Sprache so viel Bedeutung beigemessen wurde, obwohl die Möglichkeit der Kommunikation selten, sehr selten war. Aber als ein Moment der Kommunikation mit anderen half die Sprache, sich nicht völlig zu isolieren. Das mit einem Mithäftling sprechen, sich ausdrücken zu können, wenn auch mit ein paar Worten, vor allem wenn es sich um Ausländer handelte, konnte auch dazu beitragen, die Stimmung in einer solchen Extremsituation so hoch wie möglich zu halten. Die Sprache war sehr wichtig. Ich muss sagen, dass diese Dimension eigentlich wenig untersucht wurde. Als ich mich diesem Thema näherte, stellte ich fest, dass in Italien sehr wenig und im Ausland wenig veröffentlicht worden war. Das Wenige wurde in Polen und in Deutschland veröffentlicht, es sind an Informationen sehr reiche Werke. Die Literatur zu diesem Thema war aber insgesamt sehr spärlich. Zumindest in den sechziger und Siebzigerjahren verbrachte man nicht viel Zeit damit, den sprachlichen Aspekt innerhalb des Konzentrationslagers zu studieren. Erst dann wurde es langsam etwas entwickelt, aber ich denke, dass es immer als ein zweitrangiges Thema gesehen wurde, wage ich zu sagen.
BERTOLUCCI FRAGE: Gibt es einen Grund dafür? Gab es so viele andere Themen zu behandeln?
CHIAPPONI ANTWORT: Ich weiß nicht, in meiner kleinen Erfahrung könnte ich sagen, dass das Argument gilt, dass es viele andere Dinge gab, an die man sich erinnern musste, und deswegen wurde die Sprache vielleicht etwas weniger thematisiert. Als die Häftlinge beschlossen, ihre Geschichten zu erzählen, verweilten sie dann bei anderen Aspekten, zum Beispiel bei der Wiederholung des Alltags im Lager, bei den Momenten des Appells, des Aufbruchs zu den Fabriken außerhalb des Lagers. Wer es schaffte, erzählte eher die tragischsten Teile. Man muss sagen, dass es sehr schwer war, sich daran zu erinnern, das wissen wir. Diejenigen, die anfingen, darüber zu sprechen, sprachen ohnehin in den meisten Fällen viele Jahre später darüber. Ich denke, dass sich viele Jahre später bestimmte Episoden und Momente in ihrem Gedächtnis verankert hatten, mehr als alles andere. Diejenigen, die es trotzdem geschafft haben, darüber zu sprechen, haben den sprachlichen Aspekt ein wenig ausgelassen. Als ich die Gelegenheit und das Glück hatte, einige ehemalige Deportierte treffen zu können, musste ich über einen langen Weg zum Thema Sprache ankommen. Danach musste ich sie ausdrücklich fragen, es war nicht in ihrer Erinnerung. Dann, als wir anfingen, darüber zu sprechen, kam dieser Aspekt der Sprache zum Vorschein, der – das will ich betonen – absolut nicht zweitrangig war. Sowohl als ein Wert der Sozialisation, soweit sie überhaupt möglich war, als auch als Teil des Systems der Gewalt und des Terrors, das von der SS und von den Blockältesten ausging.
BERTOLUCCI FRAGE: Wie sehr hat die Sprache auch die Schwierigkeiten bei der Erforschung der Deportierten beeinflusst? Ich kann mir vorstellen, dass sogar Menschen sozusagen vom Radar verschwunden sind, weil ihre Namen vielleicht falsch geschrieben wurden.
ANTWORT CHIAPPONI: Auf jeden Fall, auf jeden Fall. Das ist passiert. Die Registrierungen erfolgten mit Zugangskarten jeglicher Art, auf denen die Namen und Nachnamen eingetragen wurden. Diejenigen, die die Eintragungen vornahmen, waren meistens Deutsche oder Polen, sodass wir uns vorstellen können, wie die Nachnamen verstümmelt wurden. Dann wurde oft automatisch eine Nummer vergeben. Die Nummer wurde in allen Lagern angegeben, in einigen, wie wir wissen, wie in Auschwitz, war sie sogar auf der Haut markiert. Zu diesem Zeitpunkt war der Häftling nicht mehr sein Vor- und Nachname, sondern nur noch eine Nummer. Und in den Listen gibt es diese endlosen Reihen von Zahlen, denen oft aber auch nicht unbedingt Nachnamen entsprachen, die oft falsch übertragen wurden, sodass die Spuren vieler Deportierten verloren gegangen sind. Die der Seriennummer war ein Grund für weitere Gewalttaten, Schläge und so weiter, denn diese Nummer wurde oft fünfstellig angegeben, weil dann innerhalb des Lagers Tausende Menschen waren. Zum Beispiel wurde die Zahl 1780 auf Deutsch gegeben und musste sofort auf Deutsch auswendig gelernt werden. Deutsch ist eine Sprache mit harter, nein, starker Aussprache, die Zahlen auf Deutsch sind sehr schwierig und so kann ich mir vorstellen, was für ein Kampf es für einen Ausländer war, seine Zahl auswendig zu lernen. Wann wurde es gebraucht? Auf dem berühmten Appellplatz am Morgen wurde eine solche Nummer vorgetragen. Dort musste der Häftling die Nummer am Klang erkennen und einen Schritt nach vorn machen. Also Nummer Soundso, als er seine Nummer rufen hörte, musste einen Schritt nach vorn machen. Wenn dies nicht getan wurde, wenn also die Person, die ihre Nummer hörte, sie nicht erkannte, nicht wusste, dass dies tatsächlich ihre Nummer war, und den Schritt nach vorn nicht machte, war das ein Grund für Schläge und Folter. Von Anfang an war also die Sprache wichtig, vom ersten Moment an, in dem der Häftling durch die Tore ging.